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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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verschränkten Arme und schaute aus dem Fenster. Nachdem er den ersten Abendstern entdeckt hatte, ging er in sein Arbeitszimmer zurück. Es geschah genauso geräuschlos, wie er gekommen war. Die untergehende Sonne schien auf seinen Rücken, als er sich langsam entfernte.
    Ich betrachtete die fertig zubereiteten Speisen. Sautiertes Schweinefleisch, garniert mit Zitrone. Ein goldgelbes Omelett mit Salat. Mein Blick strich über jeden einzelnen Teller. Es war ein ganz gewöhnliches Gericht, aber es sah köstlich aus. Lange betrachtete ich meine Hände. Mich erfüllte ein Gefühl von Genugtuung, als hätte ich das Rätsel von Fermats letztem Satz gelöst.
    Die Regenzeit ging zu Ende, in Barcelona wurden die Olympischen Spiele eröffnet, Root hatte Schulferien, und der Professor quälte sich immer noch mit der Rechenaufgabe herum. Ich wartete schon freudig auf den Tag, an dem ich seine Lösung mit der Post an die Zeitschrift schicken konnte, aber es passierte nichts dergleichen.
    Die Hitzewelle hielt an. Im Gartenhaus gab es keine Klimaanlage, und die Belüftung war miserabel. Root und ich ertrugen es klaglos, aber mit dem stoischen Gleichmut des Professors konnten selbst wir es nicht aufnehmen. An einem Tag, an dem es über 35 Grad heiß war, saß er im Anzug und bei geschlossener Tür am Schreibtisch. Es war, als fürchtete er, dass seine bisherige Beweisführung mit einem Schlag zusammenbrechen könnte, wenn er sein Jackett auszog. Sein Heft wellte sich wegen der vielen Schweißtropfen. Der Arme hatte an einigen Stellen des Körpers sogar schon Hitzebläschen. Wenn ich mit einem Ventilator in sein Zimmer kam, ihn zu einer kalten Dusche bewegen oder ihm einen Gerstentee bringen wollte, scheuchte er mich sofort aus dem Zimmer.
    Da Root nicht in die Schule musste, kam er gleich morgens mit mir mit. In Anbetracht der Auseinandersetzung mit der Schwägerin hielt ich es nicht für angebracht, dass er sich noch länger als sonst im Gartenhaus aufhielt, aber der Professor bestand darauf. Obwohl sich sein Interesse am Alltagsgeschehen in Grenzen hielt, musste er irgendwoher erfahren haben, dass die Schüler Sommerferien hatten. Root jedoch hielt es kaum im Haus. Er zog es vor, mit seinen Freunden im Park Baseball zu spielen und sich am Nachmittag im Schwimmbad zu vergnügen, anstatt über Schulbüchern zu brüten.
    Am 31. Juli, einem Freitag, war die Aufgabe gelöst. Der Professor machte weder einen sonderlich befriedigten Eindruck, noch stellte er seine Erschöpfung zur Schau. Fast beiläufig händigte er mir das Manuskript aus. Da das Wochenende bevorstand, eilte ich damit sofort zum Postamt. Prüfend schaute ich zu, wie der Umschlag als Eilsendung abgestempelt wurde, und atmete erleichtert auf, als er endlich im Briefkasten landete. Gut gelaunt machte ich auf dem Heimweg einen Einkaufsbummel. Ich kaufte für den Professor neue Unterwäsche, eine duftende Seife, Eiscreme, Gelee und süße Bohnenpaste. Als ich zurückkehrte, wusste der Professor nicht mehr, wer ich war. Ich warf einen Blick auf meine Uhr – es waren erst eine Stunde und zehn Minuten vergangen, seitdem ich das Haus verlassen hatte.
    Noch nie gab es bei den achtzig Minuten des Professors Abweichungen. Sein Gehirn arbeitete präziser als ein Uhrwerk.
    Ich löste meine Armbanduhr vom Handgelenk und hielt sie dicht an mein Ohr, um zu prüfen, ob sie noch tickte.
    »Wie viel haben Sie bei Ihrer Geburt gewogen?« fragte der Professor.
    Anfang August machte Root einen viertägigen Campingausflug, auf den er sich schon lange gefreut hatte. Es war das erste Mal, dass wir voneinander getrennt sein würden, aber das bereitete ihm nicht die geringste Sorge. Als ich ihn zum Bus brachte, warteten dort schon andere Mütter, um sich von ihren Kindern zu verabschieden. Bis zur letzten Minute waren sie eifrig damit beschäftigt, ihnen Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Ich selbst hatte auch einige für Root parat – dass er bei schlechtem Wetter seinen Anorak überziehen sollte, dass er auf seinen Krankenversicherungsausweis achtgeben sollte und dergleichen –, aber Root hörte mir gar nicht zu. Er war der Erste, der im Bus saß, und winkte mir bei der Abfahrt mehr aus Pflichtgefühl zu.
    Am ersten Abend nach Roots Abfahrt hatte ich keine rechte Lust, in unsere Wohnung zu gehen, wo niemand auf mich wartete, und so trödelte ich nach dem Abwasch noch ein wenig länger im Haus des Professors herum.
    »Soll ich noch ein bisschen Obst aufschneiden?« fragte ich ihn, worauf er

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