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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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mich noch gut daran, wie der Professor mir eines Tages, als ich in der Küche den Abwasch machte, ins Ohr flüsterte: »Sollte man nicht etwas gegen dieses Furunkel unternehmen?« Er klang, als würde das Ende der Welt bevorstehen. »Kinder haben einen regen Stoffwechsel. Es könnte urplötzlich anschwellen, auf die Lymphknoten drücken oder seine Luftröhre verschließen.«
    Wenn es um Roots Gesundheit ging, neigte er dazu, maßlos zu übertreiben.
    »Na, dann stechen wir es eben mit einer Nadel auf«, schlug ich vor.
    Meine lapidare Antwort erzürnte ihn. »Und was, wenn dann eine Infektion auftritt?«
    »Ich könnte die Nadel doch über der Gasflamme erhitzen, dadurch werden die Keime abgetötet.« Manchmal wollte ich ihn ein wenig ärgern, da mich seine übertriebene Besorgnis amüsierte. Allerdings nahm ich es mit großer Freude zur Kenntnis, dass der Professor sich so um meinen Sohn kümmerte.
    »Das geht nicht! Hier schwirren doch überall Bakterien herum. Wenn die in den Körper gelangen und sich im Gehirn festsetzen, ist es aus.«
    Der Professor gab nicht auf, bis ich endlich einwilligte. »Na gut, dann gehen wir jetzt mit ihm zum Arzt.«
    Er behandelte Root genauso wie seine geliebten Primzahlen. Diese waren das Fundament für alle natürlichen Zahlen. Ebenso waren Kinder die unentbehrliche Voraussetzung für alles, was die Welt der Erwachsenen lebenswert machte. Er glaubte daran, dass er es ihnen zu verdanken hatte, hier und jetzt zu existieren.
    Manchmal krame ich den zusammengefalteten Zettel hervor und betrachte die Formel. In schlaflosen Nächten oder an einsamen Abenden, wenn mich die Erinnerung an geliebte Menschen einholt, neige ich demütig mein Haupt vor der Größe dieser einen Zeile.

8
    Es war ebenfalls am Tag des Tanabata-Festes, als die Tigers mit 0 : 1 gegen Taiyo verloren. Es war die siebte Niederlage in Folge. Trotz meiner vierwöchigen Pause hatte ich keine Probleme, mich wieder einzuarbeiten. So beklagenswert sein fehlendes Erinnerungsvermögen auch war, in meinem Fall hatte es auch sein Gutes, denn der Professor hatte das Misstrauen seiner Schwägerin mir gegenüber sofort wieder vergessen. Der Streit zwischen uns hatte bei ihm keine Spuren hinterlassen.
    Ich übertrug sämtliche Notizzettel auf seinen Sommeranzug und achtete darauf, dass sie an der jeweils gleichen Stelle hingen. Diejenigen, die eingerissen oder verblichen waren, schrieb ich neu.
    In einem Briefumschlag im Schreibtisch, zweite Schublade von unten
.
    Funktionentheorie, 2. Ausgabe, Seite 315–372; Erläuterungen zu Hyperbelfunktionen, Band IV, Kapitel 1, § 17
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    Tabletten in der Teedose, auf dem Regal links, Einnahme nach jeder Mahlzeit
.
    Ersatzklingen für Rasierer liegen neben dem Badezimmerspiegel
.
    für die Dampfnudeln danken
.
    Einige der Notizen waren überholt – es war bereits über einen Monat her, seit Root dem Professor die Mehlspeise mitgebracht hatte, die er im Hauswirtschaftsunterricht zubereitet hatte. Ich brachte es jedoch nicht übers Herz, den Zettel wegzuwerfen, denn jeder verdiente den gleichen Respekt.
    Als ich mir die Erinnerungsstützen durchlas, ging mir auf, dass der Professor seinem Alltag viel mehr Aufmerksamkeit entgegenbrachte, als es nach außen schien. Und dass er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Deshalb bezwang ich meine Neugier, alle Notizen zu lesen, damit ich sie so schnell wie möglich anbringen konnte. Als alle Zettel hafteten, wirkte der Sommeranzug wie neu.
    Der Professor befasste sich diesmal mit einem ungewöhnlich schwierigen Problem. Das
Journal of Mathematics
hatte für die Lösung den höchsten Geldpreis seit seinem Bestehen ausgesetzt. Aber für den Professor zählte allein die Freude, an einer solch schwierigen Aufgabe zu arbeiten. Die bisher eingetroffenen Schecks der Zeitschrift lagen überall ungeöffnet herum – auf der Ablage neben dem Eingang, auf dem Telefonbord, auf dem Esstisch. Wenn ich ihn fragte, ob ich sie auf der Post einlösen solle, zuckte er bloß mit den Schultern. Da mir nichts Besseres einfiel, ließ ich sie durch die Agentur an die Witwe weiterleiten.
    Dass es sich diesmal um eine besonders schwierige Aufgabe handelte, war dem Professor deutlich anzumerken. Sein schmächtiger Körper stand außerhalb seines Arbeitszimmers wie unter Hochspannung. Und wenn er sich dorthin zurückzog, hörte man nicht das leiseste Geräusch, sodass ich schon befürchtete, sein Körper habe sich vor lauter Nachdenken in Luft aufgelöst. Doch irgendwann

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