Das Geheimnis der Hebamme
die sie sich vorgenommen hatte. Zwei der Bergleute brachten ihr einen Dritten, der sich verletzt hatte und vor Schmerz so laut schrie, dass ihn der Steiger unwirsch ermahnte,nicht die bösen Berggeister aufzuwecken. »Hast selbst Schuld, Dummkopf. Du hättest sehen müssen, dass das Gestein an dieser Stelle locker war«, knurrte er.
Der Verletzte, ein junger Bursche, riss sich beschämt zusammen. Wie der Steiger berichtete, war der junge Mann von einem Steinhagel getroffen worden, den er selbst durch einen unbedacht angesetzten Schlag ausgelöst hatte. Sein linkes Bein und der Fuß bluteten, aber er hatte Glück im Unglück gehabt, nichts war gebrochen. Marthe säuberte die Wunden und verband sie. Nicht nur der Köhler und der Schmied hatten durch die Ankunft der Bergleute viel mehr zu tun bekommen, sondern auch sie.
Die Hüttenleute an den Schmelzöfen verbrauchten Holzkohle und Holz in gewaltigen Mengen; Jonas und Karl hatten alle Hände voll zu tun, das Gezähe, wie die Bergleute ihr Werkzeug nannten, in Ordnung zu halten. Jeder trug zur Arbeit einen Satz verschiedener Eisen mit sich, die wie eine riesige Kette auf ein Seil gefädelt waren und auf einen hölzernen Stiel gesteckt werden konnten. Die Arbeit am Gestein machte das Werkzeug schnell stumpf, es musste immer wieder neu gehärtet und geschärft werden.
Was Marthe betraf, so hielten sie nicht nur Unfälle wie der des jungen Bergmanns beschäftigt. Die Arbeit in den Harzer Gruben hatte bei den Bergleuten Spuren hinterlassen. Der schwarze Staub war nicht nur unauslöschlich in ihre Haut eingefressen, sondern auch in ihre Lungen. Obwohl sie nun – zumindest vorerst – bei Tageslicht statt untertage arbeiten konnten, bekamen die meisten von ihnen schwer Luft und husteten trocken, manche litten an Auszehrung. Und fast alle von den Älteren hatten das Reißen in Händen und Füßen.
»Das kommt von der Arbeit im kalten Wasser«, hatte einer der Männer ihr erklärt, der sie einmal aufgesucht hatte, als dieSchmerzen so schlimm geworden waren, dass er Fäustel und Eisen nicht mehr halten konnte. Mit einem Schaudern hatte sich Marthe die Arbeit der Bergleute untertage vorgestellt: in fast völliger Finsternis beim schwachen Schein eines Unschlittlichtes, in beißendem Staub oder bis zum Knie in eiskaltem Wasser, ohne je die Sonne zu sehen, umgeben von unsichtbaren Geistern, die jeden Augenblick einen Steinhagel auslösen und die Menschen verschütten konnten, die tief in der Erde steckten.
Doch der Mann erriet ihre Gedanken und tat sie mit einem Lachen ab. »Wer sich fürchtet, hat im Berg nichts zu suchen.«
Als das Bein des Pechvogels versorgt war, richtete Marthe ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Die anderen gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach. Weder von Christian und seinem Grauschimmel noch von Lukas war etwas zu sehen. Auch Kuno und Bertram, die sonst durch ihre Streiche immer wieder für Durcheinander im Dorf sorgten, fehlten. Marthe vermutete, dass der Ritter und sein Knappe die nähere Umgebung beobachteten und die beiden Jungen aufgefordert hatten, von einem Versteck aus das Dorf im Auge zu behalten, insbesondere den Teil jenseits des Baches.
Sorgfältig suchte sie die Bäume am Waldrand ab. Richtig, in Schwindel erregender Höhe sah sie zwei Paar Füße baumeln. Dort hockten die beiden Anführer der halbwüchsigen Burschen, nach denen in stummem Einverständnis der Dorfbewohner diesmal niemand suchte.
Plötzlich kam Christian ins Dorf geprescht. Er sprang vom Pferd, auf einen Pfiff hin tauchte wie aus dem Nichts auch Lukas wieder auf. Nacheinander suchte der Ritter mit eiligen Schritten Pater Bartholomäus, den Bergmeister, Jonas, Hildebrand und die Reisigen auf.
Marthe wusste nicht, was Christian gesehen hatte. Doch angesichts seines Verhaltens legte sich eine spürbare Spannung über das Dorf.
Der Ritter postierte sich mit seinem wilden Grauschimmel mitten auf dem Pfad, der von Westen her ins Dorf führte. Neben ihn trat Pater Bartholomäus, ein hölzernes Kreuz in der Hand. In einigem Abstand hinter ihnen versammelten sich Arnulfs Reisige. Die anderen Männer arbeiteten zwar scheinbar ruhig weiter, aber Marthe erkannte, dass auch sie sich bereit hielten. Die Werkzeuge der Bergleute, die Äxte der Siedler und Jonas’ Schmiedehammer würden im Notfall durchaus als Waffen zu gebrauchen sein.
Wie die anderen Frauen schickte sie die Kinder ins Haus.
Marthe verharrte vor der Kate. Es dauerte nicht lange, bis sie den Lärm einer
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