Das Geheimnis der Hebamme
Christiansdorf – Bauern, Bergleute und Reisige. Die Äcker waren größer geworden, der Wald ein ganzes Stück zurückgewichen.
Hermanns Leute hatten nahe der Kirche ihre eigene Siedlung gebaut. Am Bach standen drei Schmelzöfen, aus denen dichter Rauch quoll. Inzwischen war der Boden an vielen Stellen aufgewühlt, standen Haspeln über den engen Schächten, mit denen die Bergleute in Kübeln und Säcken aus Rinderhaut Erz oder Wasser heraufholten. Mancherorts waren kleine Holzhütten über den Anbrüchen errichtet, daneben standen Scheidebänke, auf denen Kinder und Frauen die Gesteinsbrocken zerkleinerten. Dicht aneinander gereiht wuchsen die Haufen mit taubem Gestein.
Auch die gegenüberliegende Seite des Baches war inzwischen bebaut. Um den Herrenhof standen zehn weitere Holzhäuser, über deren Verwendungszweck die Christiansdorfer nach wie vor rätselten.
Der Wind zerrte an ihrem Kleid und rüttelte an der Kate hinter ihr. Fröstelnd zog Marthe das Tuch enger um die Schultern.
Die Morgendämmerung brach an. Bald würden die Hähne das Dorf wecken, die Bergleute sich mit wuchtigen Schlägen weiter in die Tiefe vorarbeiten und die Siedler mit ihren Äxten dem Wald neues Acker- und Weideland abringen.
Sie stand immer noch regungslos und ließ ihre Sinne spielen, wie Josefa es sie gelehrt hatte. Die Katze strich ihr dabei um die Beine und mochte sich wundern, dass sie diesmal nicht beachtet wurde.
Jenseits des Baches torkelte ein Knecht aus seiner Unterkunft, um sich zu erleichtern.
Drago wieherte. Wenig später trat Christian aus dem Haus.
Marthe wusste, was nun zu tun war. Langsam ging sie zu Christian, der ihr fragend entgegenblickte.
Als sie vor ihm stand, wies sie mit dem Kopf Richtung Herrenhof. »Heute.«
Mehr sagte sie nicht.
Christian hatte auch so verstanden. »Ich werde Wachen aufstellen. Danke für die Warnung.«
Stumm ging Marthe zurück. Was immer heute geschehen mochte – das Unheil würde seinen Lauf nehmen.
Sie konnte jetzt noch nicht ins Haus zurück, sondern sie musste für eine kurze Zeit allein sein. Langsam ging sie in Richtung Kirche, kniete vor dem Altar nieder und begann inbrünstig zu beten. O Herr, verlasse uns nicht in der Bedrängnis! Schenke uns weiter deinen Schutz und gib uns die Kraft, all die Prüfungen zu bestehen, die uns erwarten!
Sie hörte Schritte, wandte sich aber nicht um.
Erst als sie aufstand und gehen wollte, trat der zweite nächtliche Besucher heran und entzündete die Altarkerzen: Pater Bartholomäus.
»Ist es frommer Eifer oder besondere Not, die dich zu dieser frühen Stunde hierher führt, meine Tochter?«, fragte er freundlich besorgt.
Zögernd suchte sie nach den richtigen Worten. Der Pater hatte ihr gegenüber bisher außerordentlich viel Verständnis gezeigt. Aber in einer Kirche von hellsichtigen Eingebungen zu sprechen schien ihr doch zu gewagt.
»Ich fürchte um den Frieden in unserem Dorf«, sagte sie schließlich.
»Ja, ich auch«, erwiderte der Pater mit einem Seufzer. »Wir können alle nur beten, dass der Kelch an uns vorübergeht.«
Die Kirchentür öffnete sich erneut. Die Bergleute kamen herein, um vor der Arbeit gemeinsam zu beten, wie sie es jeden Morgen taten.
Marthe schlüpfte hinaus.
Das Dorf war inzwischen zum Leben erwacht. Doch bevor sie in ihr Haus zurückkehrte, ging sie zum Kirchhof. Dort befand sich inzwischen das erste Grab von Christiansdorf, das von Gertruds Kind. Es war ein paar Wochen vor der Zeit auf die Welt gekommen, wie Marthe gefürchtet hatte. Achtmonatskinder hatten oft zu schwache Lungen. Sie musste immer wieder Luft in den winzigen Körper blasen, bis das kleine Wesen selbstständig atmete, doch dann war sie sicher gewesen, dass es fähig war zu überleben. Am nächsten Morgen war es tot. Marthe wurde den Verdacht nicht los, dass die Tochter des Bergmeisters das Kind, das sie nicht wollte, erstickt hatte. Doch sie ließ sich davon nichts anmerken. Neugeborene starben oft. Gertrud aber ging ihr seitdem aus dem Weg. Wenig später begann Martin um die Tochter des Bergmeisters zu werben.
Marthe besuchte oft das Grab und betete für die Seele des kleinen Wesens, das auf den Namen Anne getauft worden war.
Wer von uns folgt dir als Nächster nach, fragte sie sich diesmal, während ihr erneut der Satz durch den Kopf pulsierte: Einer wird uns ganz furchtbar verraten.
Bald war sie mit der täglichen Mühsal vollauf beschäftigt. Sie kam an diesem Vormittag nicht einmal dazu, die Arbeit zu erledigen,
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