Das Geheimnis der Herzen
vorsichtiger gewesen und hätte die Sektion im Wald durchgeführt, wo weder sie noch Laure mich gesucht hätten. Es war wie ein Beweis dafür, dass alle Bemühungen meiner Großmutter, mich zu lenken und zu leiten, mich durch ein anständiges christliches Zuhause und einen anständigen christlichen Namen zu festigen, vergeblich gewesen waren. Es half alles nichts, ich war und blieb ein dunkles, stämmiges Ding mit einer fremden Art zu denken und mit einem fremden Wesen. Denn wie sonst käme ein knapp dreizehnjähriges Mädchen auf die Idee, an einem eiskalten Januartag in der Scheune ein Eichhörnchen aufzuschlitzen?
Bourret ist von dem französischen Wort bourreau abgeleitet, was eigentlich »Henker« bedeutet. In Quebec hat es allerdings noch andere idiomatische Bedeutungen. Es gibt zum Beispiel den bourreau des c œ urs , den »Herzensbrecher«. Und den bourreau d’enfants , den »Kinderprügler«. Im Fall der Familie meines Vaters war der Name prophetisch. Seine jüngste Schwester Marie war, schwer misshandelt und dann ertränkt, am Ufer des Ottawa River gefunden worden, nicht weit von ihrem Elternhaus in Rigaud, etwa eine Tagesreise westlich von Montreal. Es stellte sich jedoch heraus, dass Marie in Wirklichkeit vor ihrem Tod monatelang in Montreal gelebt hatte, in unserer Dachkammer, was außerhalb des Hauses niemand mitbekommen hatte.
Die gewaltsamen Todesumstände und die Tatsache, dass das Mädchen vorher in unserer Dachkammer versteckt worden war, wurden als hinreichende Gründe betrachtet, meinen Vater wegen Mordes anzuklagen.
Marie Bourret war ein taubstummer Krüppel und nach dem Tod ihrer Eltern ganz allein der Welt preisgegeben. Laut der Argumentation des Staatsanwalts war sie eine Last gewesen für meinen Vater, ihren ältesten Bruder, der es von allen in der großen Familie am weitesten gebracht hatte – Arzt und Dozent an der McGill-Universität, mit einer kleinen Familie und einer glänzenden Zukunft. Der Staatsanwalt überzeugte die Öffentlichkeit davon, dass mein Vater seine Schwester aus diesem Motiv getötet habe, konnte es aber nicht beweisen. Mein Vater wurde vom Gericht freigesprochen, nicht aber von der öffentlichen Meinung in Montreal.
Er durfte seine Praxis behalten, aber das nutzte ihm nichts, weil nach dem Prozess keine Patienten mehr kamen. Dann kündigte ihm die Universität. Der Mord war der größte Skandal, den die Stadt seit Jahren erlebt hatte, und alle möglichen Leute, die meinem Vater nie begegnet waren, spekulierten stundenlang über seine Schuld oder Unschuld. Wir mussten bei Großmutter White in St. Andrews East Unterschlupf suchen. Den ganzen Winter und Frühling hindurch kochte die Gerüchteküche. Leserbriefe wurden in den Zei tungen abgedruckt. In der Montreal Gazette erschien ein anonymes Gedicht.
Dies ist Mount Royal, eine Stadt,
die am Flusse des Zwistes wuchs empor,
die Stadt, wo einst der Arzt Bourret
Menschenleben zu retten schwor.
War wie die Schnellen des Stroms der Eid
nur Getöse und nichtiger Schaum?
Das Leben des Mündels im Dachkämmerlein
bewahrte der Doktor wohl kaum.
Das war die Geschichte meines Vaters Honoré Bourret. In gewisser Weise ist es auch meine. Meine Großmutter versuchte wirklich immer, ihr Bestes für mich zu tun, aber als sie das Eichhörnchen sah, konnte sie wohl nur an diese Geschichte denken.
Miss Skerry, die erst drei Tage in der Priory war, schaute mit gerunzelter Stirn zu. Ihre Gesichtsmuskeln waren ohnehin zu einem Ausdruck erstarrt, der wie ein düsteres Dauerstirnrunzeln aussah, weshalb ich mir gleich an dem Tag, als sie zu uns kam, einen Spitznamen für sie ausgedacht hatte. Miss Skerry, die Schreckliche. Bisher hatte sie es gerade mal geschafft, mit Laure und mir eine einzige Unterrichtsstunde zu halten, und die war unendlich langweilig gewesen. Wir mussten eine beliebig ausgewählte Bibelstelle laut vorlesen und dann eine Erklärung dazu schreiben. Das unterschied sich kein bisschen von dem Unterricht bei Großmutter, deren Meinung nach die Heilige Schrift der einzige Lesestoff war, der mit Sicherheit tugendhafte junge Frauen hervorbrachte.
Großmutter nahm die Brille ab und wischte sich die Augen. »Ich muss zurück zu Laure«, sagte sie und straffte sich, wodurch sie wieder etwas mehr wie sie selbst aussah.
»Was für ein Empfang in Ihrem neuen Heim, Miss Skerry«, sagte sie zu der Gouvernante. »Die eine fällt in Ohn macht, sobald sie Blut sieht, und die andere ergötzt sich daran, Eichhörnchen zu
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