Das Geheimnis der Highlands
nicht in Paranoia verfallen.
Ohne sich umzublicken, kniete Adrienne sich hin und schaufelte die verstreut liegenden Schachfiguren zu einem Haufen zusammen. Sie berührte sie wirklich nicht gerne. Kein Mensch konnte seine Kindheit in New Orleans verbringen – einen Großteil davon zu Füßen eines kreolischen Geschichtenerzählers, der hinter dem Waisenhaus lebte –, ohne ein klein wenig abergläubisch zu werden. Es war einantikes Spiel, ein Original aus der Wikinger-Zeit; eine alte Legende besagte, daß es verflucht sei, und Adriennes Leben war verflucht genug gewesen. Sie hatte das Spiel allein deshalb mitgehen lassen, um es bei Bedarf schnell in Bargeld zu verwandeln. Geschnitzt aus Walroßzähnen und Ebenholz, würde ein Sammler ein Vermögen dafür zahlen. Und außerdem, hatte sie es nicht verdient, nach all dem, was sie wegen Eberhard hatte durchmachen müssen?
Adrienne murmelte eine farbenfrohe Verwünschung schöner Männer vor sich hin. Es war moralisch nicht akzeptabel, daß ein so bösartiger Mensch wie Eberhard ein so angenehmes Äußeres hatte. Die Gerechtigkeit der Poesie verlangte nach etwas anderem – sollte sich im Gesicht eines Menschen nicht sein Herz widerspiegeln? Wäre Eberhard äußerlich so abstoßend gewesen, wie er – was sie leider zu spät erkannt hatte – im Inneren war, hätte sie sich am Ende nicht auf der falschen Seite eines Revolvers wiedergefunden. Wobei Adrienne die schmerzliche Erfahrung hatte machen müssen, daß jede Seite eines Revolvers die falsche war.
Eberhard Darrow Garrett war ein schöner, verführerischer, betrügerischer Mann – und er hatte ihr Leben ruiniert. Die schwarze Dame fest umklammert, gab sie sich selbst ein ehernes Versprechen. »Nie wieder werde ich mich mit einem schönen Mann einlassen, solange ich lebe und atme. Ich hasse schöne Männer. Ich hasse sie!«
* * *
Draußen vor den Glastüren der Cottail Lane 93 stand ein körperloses Wesen, mit menschlichen Möglichkeiten weder zu entdecken noch zu fassen, hörte ihre Worte und lächelte. Er hatte seine Wahl getroffen – Adrienne de Simone war genau die Frau, nach der er gesucht hatte.
Kapitel 3
Adrienne hatte keine Ahnung, wie sie auf den Schoß dieses Mannes gelangt war.
Eben noch war sie völlig bei Sinnen gewesen – vielleicht ein wenig neurotisch, aber nichtsdestoweniger fest von ihrem gesunden Verstand überzeugt –, und im nächsten Augenblick schwankte der Boden unter ihren Füßen, und sie wurde wie Alice im Wunderland in einen Kaninchenbau gesogen. Ihr erster Gedanke war, daß sie träumte: ein lebendiger, schrecklicher, unterbewußter Raubzug durch einen barbarischen Alptraum.
Doch das ergab alles keinen Sinn; vor wenigen Augenblikken noch hatte sie Moonshadow liebkost oder … sie hatte etwas getan … was? Sie konnte nicht so einfach eingeschlafen sein, ohne sich daran zu erinnern!
Vielleicht war sie gestolpert und hatte sich den Kopf gestoßen, und diese Halluzination war das traumatische Ergebnis einer Gehirnerschütterung.
Oder vielleicht auch nicht, befürchtete sie, als sie sich in dem höhlenartigen, rauchgefüllten Raum umsah, der mit merkwürdig gekleideten Menschen bevölkert war, die eine Art von verstümmeltem Englisch sprachen.
Jetzt hast du es hinter dir, Adrienne , dachte sie nüchtern. Du bist schließlich doch auf der anderen Seite gelandet, es
dauert nicht mehr lang . Adrienne strengte ihre Augen an, die sich merkwürdig schwer anfühlten. Der Mann, der sie umklammerte, war abstoßend. Ein rülpsendes Untier mit dicken Armen und fettem Bauch, und er roch unangenehm.
Gerade eben hatte sie sich noch in ihrer Bibliothek befunden, oder etwa nicht?
Eine schmierige Hand drückte ihre Brust, und sie schrie laut auf. Ihre Verwirrung wurde von einer weiteren bestürzenden Untat übertroffen, als er absichtlich durch das Sweatshirt ihre Brustwarze streifte. Selbst wenn dies ein Traum war, konnte sie solche Handlungen nicht ohne Wiedergutmachung durchgehen lassen. Sie öffnete den Mund, um ihm wüste Beschimpfungen entgegenzuschleudern, aber dieser Mann war schlichtweg niederschmetternd. Zwischen dem Gestrüpp aus Haaren öffnete sich ein rosafarbener Mund zu einem großen ›Oh‹. Himmel , der Mann hatte noch nicht einmal fertig gekaut, doch das war kein Wunder – die wenigen verbliebenen Zähne waren nur noch verfaulte Stumpen.
Angeekelt wischte sich Adrienne Hühnchenreste und Spucke aus dem Gesicht, als er losdröhnte, doch hellwach und mit
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