Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Tochter schuldet mir einen Kuss, Paul!«, versuchte er scherzhaft, das Gespräch zu beginnen. »Es ist nun schon das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass ich ihr das Leben rette.«
»Wenji!«, empörte sich Paul d’Armand im selben Ton, ohne die Hand seines Freundes loszulassen. »Nina ist ein kleines Mädchen!«
»Auf die Wange natürlich!«, korrigierte sich der junge Mann und zwinkerte Nina zu.
»Anstatt dumm daherzureden«, brummelte Nina mit feuerroten Wangen, »wäre es besser, schnellstens zum Arzt zu gehen. Papa, du bist verletzt!«
»Unnötig«, sagte ihr Vater und knöpfte sein Hemd auf. »Es blutet zwar, aber die Haut ist kaum geritzt.«
»Ich werde einen Druckverband anlegen«, mischte sich Wenji ein.
»Ich muss doch anfangen, meinen zukünftigen Beruf auszuüben, oder?«
Ohne weitere Erklärungen kniete er sich vor Nina auf den Boden und griff nach dem Saum ihres Kleides.
»Moment mal … was soll denn das?«, stammelte sie verdutzt, als sie seine schwarzen Haare ganz dicht vor sich sah.
»Keine Sorge, Mademoiselle d’Armand«, amüsierte sich Wenji und blickte sie schalkhaft von unten herauf an. »Ich werde Ihnen keine Liebeserklärung machen, dafür ist es wohl doch nicht der passende Zeitpunkt. Im Moment möchte ich lediglich Ihr Kleid zerreißen.«
»Sie wollen mein Kleid zerreißen?«, stieß Nina hervor.
»Für einen Verband, um die Blutung zu stillen.«
Schockiert öffnete Nina den Mund, um ihren Verehrer zu beschimpfen, aber es kam ihr kein Schimpfwort in den Sinn. Aus ihren Comics kannte sie keine vergleichbare Situation.
Die Königin Phuong nutzte die Pause, um aus dem Dunkel des Durchgangs zu treten.
»Majestät«, begann Paul d’Armand mit matter Stimme, »werden Sie mir jemals verzeihen können? Ich habe Sie verraten. Ich habe den Mortons die Figur ausgeliefert.«
Die Königin lächelte traurig und mit unendlichem Verständnis.
»Dieser Mensch hat Ihre Tochter bedroht. Was ist ein Kunstwerk angesichts des Lebens eines Kindes?«
»Ihr treibt mich noch in den kompletten Wahnsinn!«, explodierte Nina. »Ich bin kein …«
Doch sie besann sich eines Besseren. Als junge Dame stand ihr ein solcher Wutausbruch nicht gut zu Gesicht. Also atmete sie tief ein und bemühte sich, einen vernünftigeren Ton anzuschlagen.
»Ihr steht da und bemitleidet euch, anstatt zur Villa zu rennen! Wenn wir uns beeilen, können wie die Frau vom Professor vielleicht noch abfangen!«
»Madame Morton ist in der Villa?«, entgegnete Wenji besorgt.
»Tam ist ebenfalls dort.«
»Tam?«, wiederholte Nina. »Warum ist sie nicht hier? Wollte sie denn gar nicht nach mir suchen?«
»Doch, natürlich«, sagte Wenji, »wir sind gemeinsam hergekommen. Doch dann war sie plötzlich furchtbar müüde und wollte zurück nach Hué.«
»Müde? Tam?«
Nina war verwirrt. Das sah Tam nicht ähnlich. Hatte sie nicht während ihrer Krankheit acht lange Tage damit verbracht, bei ihr zu wachen? Sie dachte einige Sekunden nach, dann kam ihr die Antwort wie ein Blitz.
»Hölle und Verwesung!«, rief sie. »Tam muss meine Botschaft gefunden haben – und sie hat alles verstanden. Sie wollte zur Villa zurück, um die Figur in Sicherheit zu bringen. Und jetzt ist die alte Morton auf dem Weg dorthin. Beeilen wir uns!«
Ohne auf die anderen zu warten, stürzte Nina zum unterirdischen Gang. Ihre Freundin brauchte sie, sie rief sie um Hilfe, das spürte sie. Gleichzeitig wurde sie von einem ganz neuen Gefühl übermannt. Ihr wurde klar, dass zu ihrem Glück noch jemand fehlte und das dieser Jemand Tam war. Tam – so temperamentvoll, so raffiniert, so lebendig wie das schimmernde Licht auf dem Fluss der Düfte.
Der Geist
Langsam Tam kam wieder zu Bewusstsein.
»Woher kommen denn nur diese Kopfschmerzen?«
Sie hätte sich gern die schmerzende Stelle am Kopf gerieben, doch ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden. Das Seil schnitt ihr in die Handgelenke und ihre mit einem Heftpflaster verklebten Lippen brannten.
›Es ist mein Fehler‹, dachte sie. ›Wenn ich nicht so lang überlegt hätte, ob ich die Madonna aus Jade stehlen sollte oder nicht, wäre genügend Zeit gewesen, das Haus rechtzeitig zu verlassen.‹
Jetzt konnte sie nur noch warten – aber worauf eigentlich? Sie wusste es nicht. Tam versuchte, sich zu bewegen, doch Madame Morton hatte ihre Sache gut gemacht. Auch ihre Beine waren gefesselt. Alles, was sie sah, war ein Stück Flur hinter Ninas Zimmertür. Noch dazu taten ihr die Augen weh
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