Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
zögern.
Er zog einen Gegenstand aus seiner Hosentasche und zeigte ihn der Königin. Es war eine kleine Pistole mit einem Perlmuttgriff.
»Es gab eine Zeit, da hielten sich weiter oben am Fluss Räuber auf. Seitdem haben wir immer eine Waffe in der Dschunke.«
»Dann sollten wir uns beeilen«, sagte die Königin Phuong. »Ich habe Morton dort hinter den Tempeln gesehen.«
Sie zeigte mit dem Finger auf den Vorplatz und bewegte sich mit dem geschmeidigen Schritt einer Tänzerin in Richtung der bemoosten Treppe. Ehe er ihr folgte, drehte sich Wenji zu Tam um. »Du solltest trotz allem zurückkehren. Falls Nina in der Villa Henriette ist, kann sie deinen Beistand sicher gut brauchen.«
Tam ließ es sich nicht zwei Mal sagen. Sie war Wenji in keiner Hinsicht nützlich und behielt Ninas Botschaft im Kopf: FRAHG DIE JUNGFRAU MARIA. Sie sauste, so schnell es ihr ihre müden Beine erlaubten, am Teich entlang.
Tams Versuchung
Zwei Stunden später betrat Tam die Villa Henriette. Sie ging an dem hässlichen gelb-blauen Regenschirm im Flur vorbei in Ninas Zimmer. Dort war alles ruhig und kühl, das Bett nicht angetastet, die Puppen aufgeräumt. Man hätte meinen können, hier wohnte ein wohlerzogenes Kind, das gerade hinausgegangen wäre. Es war unmöglich zu erraten, dass das betroffene Kind ein junges Mädchen war, das unter Umständen irgendwo im Wald in einem Versteck kauerte.
Tam wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie ging auf den Nachttisch zu und nahm die angemalte Jungfrau Maria. FRAHG DIE JUNGFRAU MARIA. Tam musterte die Figur, als könnte diese in jedem Moment anfangen zu sprechen und ihr die Lösung des Rätsels präsentieren. Ihr Blick glitt bis zu der Stelle, an der die Farbe abblätterte. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Schürfung.
»Bravo, Nina!«
Die Farbe war schlecht und zu schnell aufgetragen. Deshalb war sie unten abgeblättert. Nina ging zum Fenster und hielt die Figur ins Licht. Unter der Farbe erschien ein milchiges, lichtdurchlässiges Material, wie eingetrocknete Creme.
Ihr Herz begann zu klopfen. Was sie hier gerade in den Händen hielt, war zehntausend Piaster wert! Die zehntausend Piaster, die sie in dem Safe gesehen und nicht anzurühren gewagt hatte. Jetzt hielt sie sie wieder in ihren Händen – und niemand wusste davon. Natürlich hätte sie der Königin und Wenji von Ninas Botschaft erzählen können, doch sie hatte nichts gesagt. Sie hatte den Schlüssel zum Geheimnis für sich bewahrt.
Ein seltsamer Schmerz stieg in ihr auf. Tam war krank. Krank vor Sehnsucht. Sie beneidete diejenigen, die zehntausend Piaster für eine Figur aus Jade bezahlen konnten. Sie beneidete diese gemeine Mei, die sich hoffnungslos unnütze Zeichenstunden leisten konnte. Und vor allem beneidete sie Wenji, für den es so unkompliziert war, nach Frankreich zu gehen, um Medizin zu studieren.
›Und wenn ich die Göttin einfach irgendwo verstecke?‹, sagte sie sich. ›Ich werde allen erzählen, dass ich mit der Botschaft nichts anfangen konnte, dass ich zurückgefahren sei, um mich hinzulegen, da ich Fieber hatte.‹
Tam hatte Tränen in den Augen. Warum war sie dazu verurteilt, solche Dinge nur träumen zu können? Aber konnte man nicht versuchen, das Unmögliche möglich werden zu lassen? Nina hatte Miss Mellys Kleider gestohlen, um das Unmögliche möglich zu machen. Warum könnte sie dann nicht die Madonna aus Jade stehlen?
›Wenn sie einfach verschwindet, werden alle aufhören, dieser Figur hinterherzujagen. Sie wird in ihrem Versteck warten, bis ich mein Abitur gemacht habe. Und dann werde ich mit ihr flüchten. Ich werde sie in Saigon verkaufen, mich nach Frankreich einschiffen und Chemie studieren.‹
Tam sah sich im Zimmer um, und ihr Blick blieb an Miss Mellys Reisekoffer hängen. Er stand offen, die Kleider hingen halb heraus, so hatte Nina sie zurückgelassen, nachdem sie den Koffer durchwühlt hatte. Irgendwie war diese schöne Unordnung auch eine Art Porträt von ihr. Zwischen zwei Spitzen erblickte sie ein kleines Gesicht mit rosa Wangen: die andere Jungfrau Maria, die Nina mitgebracht hatte. Tam ging hin und nahm sie an sich. Jetzt hielt sie beide Figuren in den Händen: die Jungfrau Maria in der einen, die Göttin Kwan Yin in der anderen. Sie waren gleich groß, sie hatten das gleiche Lächeln, die gleichen geöffneten Hände – das war verwirrend.
»Ein wenig wie wir. Wie Nina und ich. Gleich und doch verschieden.«
Alle Sehnsucht und Schmerz waren aus ihrem Herzen
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