Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Sie
verstummte, denn der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Sie
spürte Jinzis Blick auf sich ruhen und zwang sich, ihn
anzusehen. Seine Augen blitzten, so wie früher bei seinen
Wutausbrüchen.
»Jetzt
hör mir zu, Vi Ki«, begann er unnötig laut. »Ich
bin zu Shen Akeu gegangen und habe ihr erzählt, dass ich nicht
mehr bei ihr bleiben will. Sie schien nicht überrascht, ich
glaube, sie hatte nichts anderes erwartet. Dann bat sie mich, noch
eine Nacht mit ihr zu verbringen. Ich konnte nicht ablehnen, es wäre
eine zu große Kränkung für sie gewesen. Begreifst du
nicht, wie großzügig sie war? Sie hätte mich ohne
große Mühe vernichten können, war aber bereit, uns
gemeinsam gehen zu lassen. Mir blieb gar nichts anderes übrig,
als ihr diesen Wunsch zu erfüllen.«
Viktoria
zuckte zusammen. Ihr Kopf drehte sich plötzlich. Bisher war
alles völlig klar gewesen, sie hatte sich für die
Konsequenz gelobt, mit der sie diese Beziehung ohne Tränenausbrüche
und sinnloses Betteln beendet hatte.
»Warum
hast du mir das nicht gesagt?«, flüsterte sie fassungslos.
»Weil
du schon weg warst, als ich es dir sagen wollte. Ich sah dich nur
kurz bei der Beerdigung meiner Großmutter. Das war nicht der
richtige Moment für ein Gespräch.«
Viktoria
schluckte.
»Du
warst auch dort?«
Margaret
Huntingdon war drei Tage nach ihrem Gespräch mit Jinzi
gestorben. Viktoria hatte an der Beerdigung teilgenommen, obwohl sie
nicht eingeladen gewesen war. Robert Huntingdon hatte es nicht
gewagt, sie fortzuschicken. Aber Jinzi hatte sie nicht gesehen.
»Ich
hielt mich im Hintergrund«, beantwortete er die
unausgesprochene Frage. »Die Kirche habe ich nicht betreten,
aber ich folgte den Gästen zum internationalen Friedhof am
Nordtor der Chinesenstadt. Dort gehe ich jetzt noch manchmal hin und
zünde Räucherstäbchen an.«
Viktoria
fragte sich, ob Robert Huntingdon dies bemerkt hatte, falls er
überhaupt das Grab einer Mutter besuchte, von der er niemals die
ersehnte Liebe erfahren hatte.
»Was
ist mit deinem Erbe?«, wechselte Viktoria das Thema. Jinzi hob
leicht die Hand.
»Ich
habe es nicht beansprucht. Ich wollte es niemals wirklich haben. Nur
deinetwegen hätte ich es versucht. Um dir ein Leben zu
ermöglichen, wie du es gewöhnt warst. Ich wollte dich nicht
unglücklich machen. Aber im Grunde habe ich immer damit
gerechnet, dass du deine Meinung wieder ändern wirst. Warum
sollte eine Frau wie du sich mit einem mittellosen Halbchinesen
einlassen?«
Viktoria
schnappte nach Luft. Auf einmal wurde sie von Vorwürfen
überrollt.
»Vielleicht,
weil ich diesen Halbchinesen wollte«, erwiderte sie
aufgebracht. »Doch als er sich nicht so loyal verhielt wie
versprochen, da ging ich eben fort. Er machte sich niemals die Mühe,
mich aufzusuchen und mir die Dinge zu erklären.«
Dann
begann sie zu überlegen, ob Shen Akeu eine solche Entwicklung
der Dinge vorausgesehen hatte, ob all dies von ihr geplant gewesen
war. Klug genug wäre sie dazu gewesen. Doch wollte sie auf
einmal nicht schlecht von dieser eindrucksvollen Frau denken.
Jinzi
scharrte mit den Füßen im Kies. Zögernd streifte sein
Blick Viktoria, verlegen und ratlos, als sei ihm plötzlich seine
eigene Schwäche bewusst geworden. Triumphierend holte sie Luft,
doch plötzlich erschien es ihr sinnlos, sich weiter gegenseitig
mit Vorwürfen zu überhäufen.
»Warum
bist du jetzt auf einmal hier?«, fragte sie nur.
»Weil
meine Schwester meinte, ich wäre ein Feigling, wenn ich nicht
käme. Ich lasse mich nicht gern feige nennen.«
Er
lachte kurz.
»Dewei
wollte mich auch ständig dazu überreden. Er sagte, du
würdest verstehen, wenn ich dir alles erklärte. Ich glaubte
ihm nicht, wollte mir die Zurückweisung ersparen. Erst Chuntian
fand die richtigen Worte.«
Er
hielt den Blick gesenkt, aber seine Finger legten sich zaghaft auf
Viktorias Hand. Es schien auf einmal selbstverständlich, diese
Berührung zu erwidern. Sie neigte den Kopf, bis er an seiner
Schulter lag. Dann fühlte sie die Wärme einer Umarmung.
»Chuntian
und ich, wir haben einen Familienaltar gebaut«, erzählte
Jinzi nun deutlich ruhiger. »Die Heiratsurkunde meiner Eltern
liegt dort. Und ein paar getrocknete Blumen, die ich vom Grab meiner
Großmutter stahl, denn sonst hatte ich nichts, das mich an sie
erinnerte.
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