Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Ich habe gelernt, beide meiner Eltern zu schätzen.
Willst du dir mein Zuhause ansehen?«
Viktoria
nickte. Ihr Herz schlug nun ruhig, sie empfand weder Aufregung noch
Angst.
»Ich
schreibe meiner Mutter jetzt regelmäßig«, erzählte
sie. »Sie weiß, wo ich bin und wie es mir geht. Aber wir
waren einander niemals nahe und daran wird sich wohl auch nichts
ändern.«
Zaghaft
blickte sie zu Jinzi. Er stammte aus einer Welt, die Eltern zu
Halbgöttern erhob und von Kindern unbedingten Gehorsam
erwartete. Doch verzog er keine Miene. Für einen mittellosen
Akrobaten gab es wichtigere Sorgen als eine Gefährtin, die sich
nicht mit ihrer Mutter verstand. Viktoria atmete erleichtert auf.
Gemeinsam
wagten sie sich in den Lärm und das Gedränge Shanghais.
Während sie sich vorwärts rempelten und immer wieder selbst
geschubst wurden, schienen ihre Hände miteinander zu verwachsen,
sodass niemand mehr sie trennen konnte.
»Ich
will den Drachenreif auf diesen Familienaltar legen«, sprach
Viktoria ihren ersten Gedanken aus. »Ohne dieses Geschenk
meines Vaters wäre ich niemals nach China gekommen.«
Ihr
war ungewohnt leicht zumute. Ihrem Vater hatte sie schon lange seinen
Verrat vergeben. Er hatte ihr den Weg nach China gewiesen und nun
fühlte sie sich hier endgültig zuhause.
Nachwort: Das
Geheimnis der Jaderinge
Der
Taiping-Aufstand gehört zu den blutigsten Bürgerkriegen der
Menschheitsgeschichte und war von entscheidender Bedeutung für
Chinas Entwicklung. Dennoch ist dieses historische Ereignis in Europa
bis heute weitgehend unbekannt. In der Hoffnung, es den deutschen
Lesern etwas näherzubringen, habe ich mich in meinem Roman um
eine akkurate Beschreibung der Ereignisse bemüht, musste sie
aber um der Geschichte willen etwas vereinfachen und zusammenfassen.
Beginnt
man sich als Europäer mit den Taiping zu beschäftigen, so
gewinnt man schnell den Eindruck, sich in einer Zeit zu befinden, die
viel weiter zurückliegt als das 19. Jahrhundert. Der religiöse
Eifer, mit dem sie Andersgläubige niedermetzelten und Kunstwerke
von unschätzbarem Wert zerstörten, findet sich in der
europäischen Geschichte im Mittelalter und in der frühen
Neuzeit.
Als
ich zum ersten Mal auf Informationen über Hong Xiuquan, der sich
zweiter Sohn des christlichen Gottes nannte, stieß, fragte ich
mich, ob er ein Verrückter oder ein Hochstapler war. Doch in
Wahrheit war er wohl keines von beidem, sondern vielmehr ein von
seiner Mission überzeugter Visionär. Das China des 19.
Jahrhunderts wurde von einer hochgebildeten, sehr rational
orientierten konfuzianischen Elite beherrscht, die aber in starren,
uralten Traditionen gefangen war. Die breite Masse der Bevölkerung
hatte kaum Möglichkeiten, sich Bildung anzueignen, und war in
ihrem Glauben an Götter, Geister und Dämonen sehr
empfänglich für Hong Xiuquans Botschaft. Seine
Interpretation der Bibel griff in vielerlei Hinsicht bereits
kommunistische Ideen auf – auch darin ähnelt er radikalen
christlichen Sekten der europäischen Geschichte. Privatbesitz
wurde aufgehoben, Frauen erhielten zwar nicht völlige
Gleichberechtigung, doch standen ihnen viel mehr Freiheiten zu als in
der etablierten chinesischen Gesellschaft. Auch das traditionelle
Einbinden der weiblichen Füße wurde abgeschafft. Durch
diese Maßnahmen gelang es Xiuquan, gerade in den
benachteiligten Bevölkerungsschichten zahlreiche Sympathisanten
zu gewinnen. Allerdings setzten die Taiping seine Ideen nicht
konsequent um. Nach der Eroberung Nanjings zog Hong Xiuquan sich
weitgehend aus dem Kriegsgeschehen zurück, widmete sich dem
Studium der Bibel und begann, den traditionellen Lebensstil eines
chinesischen Kaisers nachzuahmen. Gleichzeitig schwächten
interne Machtkämpfe das Reich der Taiping. Den Todesstoß
versetzten ihm jedoch die westlichen Mächte, die sich auf die
Seite der Kaiserlichen schlugen. Den an wirtschaftlichem Gewinn
interessierten Alliierten war der religiöse Eifer der Taiping
suspekt. Das korrupte, schwache Kaiserreich war leichter zu
kontrollieren und wurde deshalb auch militärisch unterstützt.
Aber
wie konnte das in China kaum verbreitete Christentum Auslöser
eines chinesischen Bürgerkriegs werden? Versuche, China zu
christianisieren, hatte es bereits vorher gegeben. Im 9. Jahrhundert
flüchteten die als Ketzer vertriebenen Nestorianer nach Asien
und gründeten dort Gemeinden. Auf diese stieß im
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