Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
schließlich fiel ihm ein, mich zu fragen, was ich selbst
wollte. Vielleicht hatte die Standpauke, die du ihm damals gehalten
hast, doch eine Wirkung.«
Viktoria
schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte sich kaum
vorstellen, in Lao Tengfei etwas anderes als reinen Zorn geweckt zu
haben. Aber er war ein durchaus intelligenter Mann, das galt es zu
bedenken.
»Also
beschloss ich, nach meiner Mutter zu suchen«, plauderte
Chuntian auch schon weiter. »Ich ging zu dem Haus, wo ich sie
damals getroffen hatte, und erfuhr, dass sie nach Shanghai gegangen
war. Ich verkaufte meinen Schmuck und meine schönen Kleider, die
ich als dritte Ehefrau eines Mandarins erhalten hatte. Viel Geld kam
dabei nicht heraus, aber es reichte, um ebenfalls hierher zu kommen.
Ich fand einen fahrenden Händler, der mich mitnahm.«
Sie
reckte stolz das Kinn in die Höhe.
»Ich
suchte ein paar Wochen nach meinem Bruder und entdeckte ihn
schließlich auf einer Theaterbühne«, beendete sie
ihre Geschichte. »Er nahm mich auf.«
Viktoria
senkte den Blick.
»Es
tut mir leid, dass du deine Mutter nicht mehr wiedersehen konntest«,
sagte sie leise. Chuntian nickte nur.
»Ich
weiß, wie sie gestorben ist. Und dass du bei ihr warst, was ihr
sicher geholfen hat.«
Sie
legte wieder eine warme Hand auf Viktorias Arm.
»Wir
wissen auch, wo du wohnst und was du machst. Jinzi hat gelegentlich
mit Dewei gesprochen, doch der durfte dir nichts davon erzählen.
Ich habe dich manchmal vorbeilaufen sehen, aber du hast mich nicht
bemerkt.«
Sie
kicherte, wurde dann ganz plötzlich ernst, als sei ihr ein neuer
Gedanke gekommen.
»Heute
bin ich so glücklich, weil meine Gedichte gedruckt werden«,
redete sie weiter. »Als ich dich bemerkte, da dachte ich, du
willst vielleicht wissen, wie es uns geht. Wir haben ein kleines
Zimmer hier in der Nähe. Wir sind ganz zufrieden.«
Viktoria
überkam ein leichter Schwindel. Gefühle, die sie lange
begraben hatte, quälten sie nun von Neuem. Warum tat es so weh,
dass Jinzi all die vergangenen drei Jahre nicht einmal versucht
hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen?
»Wie
geht es Shen Akeu?«, zwang sie sich zu fragen, um die Augen
nicht vor der Wirklichkeit zu verschließen. Chuntians Augen
wurden ein wenig größer.
»Das
weiß ich nicht. Als ich Jinzi traf, hatte er keinen Umgang mehr
mit ihr. Er versucht, sich allein als Schauspieler und Akrobat
durchzuschlagen. Es ist schwierig, aber hier geht es einigermaßen.
In Shanghai interessiert sich kaum jemand dafür, aus welcher
Familie man stammt, Begabung ist wichtiger. Ich glaube, hier entsteht
etwas, wovon meine Mutter träumte. Ein neues China, das sich
nicht vom Rest der Welt abschotten will.«
Sie
hatte wieder ihre vergeistigte Miene aufgesetzt und schien zu einer
längeren Rede bereit, doch ein unbeabsichtigter Schubser des
Händlers, der am benachbarten Stand seine Ware neu sortierte,
holte sie in die Gegenwart zurück.
»Wollen
wir nicht zusammen Tee trinken, bei uns zuhause?« schlug sie
einfach vor. »Wir könnten wieder gemeinsam Bücher
lesen, das hat wirklich Spaß gemacht damals.«
Ihre
Augen leuchteten. Sie sah viel jünger und lebendiger aus als in
der Zeit bei Lao Tengfei. Viktoria wollte die Einladung sogleich
annehmen, dann fiel ihr ein, dass sie bei dieser Gelegenheit
vermutlich Jinzi begegnen würde. Eine unsichtbare Schnur legte
sich um ihren Hals und würgte.
»Vielleicht
irgendwann«, meinte sie ausweichend. »Jetzt muss ich
zurück in mein Hotel.«
Chuntians
enttäuschter, fast verletzter Gesichtsausdruck ließ sie
innehalten, obwohl sie schon zum Aufbruch bereit gewesen war. Spontan
wandte sie sich nochmals um.
»Ich
kann dir vielleicht eine Arbeit bei Mrs. Aberson besorgen«, bot
sie an. »Dein Englisch ist hervorragend. Du könntest die
Mädchen unterrichten. Komm morgen Nachmittag einfach zu mir ins
Hotel.«
Chuntian
lächelte verhalten.
»Das
wäre sehr nett von dir, Vi Ki«
Sie
holte nochmals Luft, als wollte sie etwas hinzufügen, doch im
letzten Moment senkte sie ratlos den Blick. Viktoria fragte sich, wie
viel Chuntian von ihrem Verhältnis mit Jinzi wusste. Aber das
war nicht wichtig, ermahnte sie sich. Diese Geschichte gehörte
endgültig der Vergangenheit an.
»Also
dann bis morgen«, sagte sie und ging los. Der
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