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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Oberst?«
    »Er ist tot.« Fast war Bernina selbst überrascht, wie hart, wie
vernichtend sie ihm diese Worte hinwarf. Plötzlich sah sie etwas in seinen
Augen, das sie niemals darin erwartet hätte. Schmerz, Trauer. Verzweiflung.
Eine Verzweiflung, die er wohl auch in die vielen Schreiben gelegt hatte, die
er seinem Sohn zukommen ließ.
    »Ja, er ist tot«, wiederholte Bernina, diesmal etwas verhaltener.
»Und ich muss sagen, dass auch Sie für mich ein Rätsel sind. Zwar weiß ich
inzwischen viel mehr über Sie, aber doch noch nicht alles.«
    »Das wirst du auch nicht. Und sonst niemand.« Er wog die Waffe in
der Hand, als würde er die Berührung mit ihr genießen. »Nur erlöse mich von der
letzten Neugier meines Lebens, bevor ich dich und deinen neuen Begleiter
geradewegs in die Hölle schicke.« Er ließ das letzte Wort verklingen, um dann
fortzufahren: »Dort sehen wir uns sowieso bald alle wieder. Aber jetzt mal raus
mit der Sprache. Warum bist du hier?« Er maß Bernina mit seinem Blick. »Wer
bist du? Wie lautet dein Name?«
    Bernina wechselte einen tiefen Blick mit Anselmo. Sie ergriff
seine Hand, und er drückte sie. Dann sah sie wieder zu dem Mann.
    »Ich bin das kleine Mädchen auf dem Gemälde«, sagte sie ruhig. Und
mit einer Furchtlosigkeit, die sie selbst erstaunte. »Auf dem Gemälde, auf dem
auch Sie zu sehen sind. Ich meine das Bild in der Festung. Darauf legen Sie den
Arm um meine Schultern.«
    Er verzog sein hageres Gesicht. Erst Verwirrung, dann tiefste
Ungläubigkeit sprachen aus seinen Zügen. »Nein«, erklang seine Stimme, in der
auf einmal fast etwas Menschliches lag. »Das kann nicht sein. Wie sollte das
sein können …?« Er verstummte.
    »Doch. Ich bin es.«
    Noch immer wurde sie von seinem ungläubigen fiebrigen Blick
abgetastet. Seine Lippen öffneten sich. Bevor er jedoch etwas sagen konnte,
erstarrte sein Gesicht. Ganz plötzlich. Die Wangen spannten sich um die spitzen
Knochen darunter, die Augen traten hervor, als könnten sie aus ihren Höhlen
herausspringen.
    Und dann – ein entsetzlicher Anblick.
    Etwas drang aus seiner Brust. Spitz und funkelnd. Blut spritzte
auf. Es war die Klinge eines Degens, die jetzt wieder zurückgezogen wurde. Der
Mann spuckte Blutschaum, sank in die Knie und fiel nach vorn – mit genau
der gleichen Bewegung wie einige Tage zuvor sein Sohn. Bernina fühlte ein
furchtbares Erschauern in sich. Sie drückte Anselmos Hand ganz fest und sah zu,
wie Thadeus von Falkenberg zum letzten Mal in seinem Leben ausatmete.
Unwillkürlich blickte sie auf.
    Im Türrahmen stand jemand, den Degen mit der blutverschmierten
Klinge in der Hand.
    Es war die Krähenfrau.
    Klein sah sie aus, fast zart. Wie früher war sie eingehüllt in
derbe, vielfach geflickte Wollstoffe. Ihr Blick ruhte nur kurz auf Bernina,
wehmütig und durcheinander, erleichtert und beunruhigt, alles auf einmal, alles
zugleich.
    Anselmos Arm schmiegte sich um Berninas Schultern. Doch sie löste
sich von ihm und trat über den toten Mann auf dem Boden, ohne ihn noch
wahrzunehmen. Sie stellte sich gegenüber der Krähenfrau hin, die ihrem Blick
sofort auswich, die gar nicht mehr wusste, wo sie hinsehen sollte. Es schien,
als würde sie sich am liebsten unsichtbar machen.
    »Cornix«, sagte Bernina leise. »Es ist so schön, dich zu sehen.«
    Die Krähenfrau ließ den Degen fallen, der scheppernd auf dem Boden
landete. Sie antwortete nicht, sondern achtete nur darauf, dass sich ihre
Blicke nicht begegneten.
    Stille zog durch dieses Zimmer, es war ein geradezu unwirklicher
Moment. Erneut war es Bernina, die ihre Stimme erhob: »Cornix, kannst mir eine
Frage beantworten? Eine ganz einfache Frage?«
    Die Krähenfrau sah auf den Boden.
    »Cornix, sag mir bitte nur eines.« Bernina füllte ihre Lungen mit
Luft, um dann zu fragen: »Wer bin ich? Sag mir bitte: Wer bin ich?«
    Wieder war diese Ruhe geradezu unwirklich. Erst nach einer ganzen
Weile blickte die Krähenfrau auf. Sie betrachtete zum ersten Mal ganz offen
Berninas Gesicht. Auf einmal zeigte sie ein schüchternes, beinahe mädchenhaftes
Lächeln. »Du bist mein Fleisch und Blut.« Eine Träne stand plötzlich auf ihrer
Wange. »Du bist meine kleine Bernina.«
     
    *
     
    Das Grau der Wolkendecke hatte erste Risse bekommen, und der Wald
schien durchzuatmen. Bäume knarzten, ihre Wipfel wogten leicht im Wind, der
nicht mehr ganz so kühl war wie in den letzten Tagen. Dann waren da noch die
Geräusche der Schaufel, mit der Anselmo die Erde auf dem

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