Das Geheimnis der Krähentochter
Grab festklopfte. Nur
ein paar Schritte entfernt davon standen die beiden Frauen, die sich lange
nicht gesehen hatten und denen langsam bewusst werden musste, dass das, was sie
verband, zum ersten Mal ausgesprochen worden war.
»Ich kann gar nicht glauben, dass er wirklich tot ist«, sagte die
Krähenfrau, während sie den fast fertigen Erdhügel betrachtete, der sich über
Thadeus von Falkenbergs Leichnam erhob. Sie befanden sich nahe der Trümmer, die
von einem der Ställe noch übrig waren. Hier war es auch, wo Anselmo auf die
alte Schaufel gestoßen war und kurzerhand mit dem Ausheben des Grabes begonnen
hatte.
»Manchmal hatte ich den Eindruck«, fuhr die Krähenfrau fort, »er
wäre unsterblich und würde für alle Zeiten durch die Lande streifen,
angetrieben von diesen bösen Geistern, die ihn immer schon beherrschten.« Sie
seufzte. »Ich nehme an, du weißt, wer dieser Mann war?«
Bernina nickte langsam. »Ich weiß es, und trotzdem ist da so
vieles, was ich nicht weiß.«
»Wenn ihr wollt«, meinte Anselmo und stützte sich auf die
Schaufel, »kann ich ein Kreuz für ihn herrichten. Hier liegt genügend Holz
herum.«
»Nein, kein Kreuz«, entschied die Krähenfrau, bevor Bernina etwas
erwidern konnte. »Es soll nichts geben, was an diesen Mann erinnert.«
Sie gingen ins Hauptgebäude, schweigend, sich der seltsamen
Atmosphäre bewusst. Die Krähenfrau führte sie in einen großen Raum im
Erdgeschoss. Hier hatte die Familie Vogt früher ihre Abende am Kamin verbracht.
Im Gegensatz zum Rest des Hauses war dieses Zimmer aufgeräumt. Stühle standen herum,
da war eine Schlafstelle, ein Schrank, ein Tisch, auf dem sich Töpfe, Schalen
und Holzbecher verteilten. Offenbar hatte man im ganzen Haus Stücke
zusammengesucht, die damals bei dem Überfall nicht zu Schaden gekommen waren.
Die Krähenfrau füllte den gemauerten Kamin mit kleinen Ästen und
ein paar Buchenscheiten, die sie geschickt in Brand setzte. Zu dritt nahmen sie
Platz. Nicht etwa auf den Stühlen, sondern auf Wunsch der Krähenfrau auf zwei
übereinander gelegten, dicken Wolldecken, die den freien Raum vor dem Kamin
einnahmen.
»Was ist mit der Hütte passiert?«, fragte Bernina, bloß um
überhaupt etwas zu sagen und dieses Schweigen zwischen ihnen zerbrechen zu
lassen.
»Wir waren dort«, setzte Anselmo hinzu, wohl ebenfalls recht froh
um Berninas Worte. »Die Hütte war in wirklich schlechtem Zustand.«
Cornix sah von ihm zu Bernina, dann in die allmählich wilder
züngelnden Flammen. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr beiden sehr lange
zusammenbleiben würdet. Aber da habe ich mich wohl getäuscht.« Sie stieß ein
leises zufriedenes Kichern aus. »Ach ja, die Hütte. Mein Refugium, mein Hort.
Ein Sturm hat meinem Hüttchen übel mitgespielt. Es schüttete und schüttete, und
so flüchtete ich mich hier in den Petersthal-Hof, trotz des Grusels, den dieser
Ort in mir auslöst. Das Unwetter dauerte lang, und weil ich ohnehin nichts
anderes tun konnte, räumte ich ein wenig auf. Eigentlich wollte ich nur ein
paar Tage bleiben, aber auf einmal lebte ich hier, auch als der Sturm längst
weitergezogen war.«
»Warum hast du nicht versucht, in einem der Dörfer unterzukommen?«
»Ach, das weißt du doch auch so. Weil mich keines der Dörfer hätte
haben wollen. Außerdem hätte ich diesen Wald sowieso nie verlassen. So saß ich
hier auf den Decken und starrte ins Feuer, genau wie jetzt. Nur ganz allein.
Ich hatte so eine Ahnung, eine böse Ahnung, die mich nachts weckte, die
schmerzte. Ich fühlte sie wie ein Brennen auf meiner Haut.«
»Was für eine Ahnung, Cornix?«
»Dass dir etwas Schlimmes zugestoßen ist. Oder dass du zumindest
in Gefahr warst, in großer Gefahr.«
»Du hast an mich gedacht?«
»Immer habe ich an dich gedacht, immer und immer und immer.« Nach
wie vor sah die Krähenfrau in die Flammen. »Dann passierte etwas. Als ich vom
Kräuter- und Beerensammeln aus dem Wald zurückkehrte, sah ich die Silhouette
eines Mannes, der dieses Haus betrat. Ich schlich mich an und hielt mich in den
Trümmern des Stalls verborgen. Und ich erschrak fürchterlich, als ich ihn
erkannte. Einen ganzen Tag lang beobachtete ich ihn. Er war auf der Flucht, war
um sein Leben gelaufen, und zwar einen weiten Weg, das sah ich ihm an. Zu Fuß
war er hier aufgetaucht, ohne Pferd. Er wirkte krank, erschöpft, am Ende seiner
Kräfte. Mir wurde klar, dass er sich hier nur versteckte. Dass er den
Petersthal-Hof ausgewählt hatte, gerade weil der Hof
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