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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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die Orientierung. Es war nicht mehr weit, das wusste
sie genau. Mit beiden Händen ergriff sie die Äste und Zweige, die ihr die Sicht
nahmen. Noch ein langer Schritt, hinweg über Erde und Gras, und dann waren sie
an der Stelle, zu der es Bernina hingezogen hatte.
    Nebeneinander blieben sie stehen. Die Aufregung in Bernina wich
einer tiefen Enttäuschung. Damit hatte sie nicht gerechnet.
    Die Hütte der Krähenfrau. Sie war noch da und doch nicht.
    Zögernd trat Bernina näher. Das Dach war eingestürzt, vielleicht
durch einen heftigen Sturm, der sich durch den Wald gefressen hatte, vielleicht
auch einfach nur durch die Zeit, die niemals aufzuhalten war.
    Auf den Bäumen hinter der Hütte hockten sie, genau wie damals, als
wären sie nie davongeflogen. Krähen. Etwa ein Dutzend, verteilt auf mehrere
Äste. Die schwarzen Augen waren auf Bernina und Anselmo gerichtet, das Gefieder
glänzte wie Tinte.
    Nur eine der Hüttenwände stand noch. Selbst auf die Entfernung von
einigen Schritten konnte Bernina die eingeritzten Symbole im verwitterten Holz
dieser Wand erkennen. Darunter zwei ganz bestimmte: Schwert und Blume, die
Zeichen der Familie von Falkenberg.
    Langsam ging Bernina auf das zu, was von der Hütte noch übrig war.
Sie sah die Feuerstelle und nahm den eigentümlichen Geruch wahr, der zu diesem
versteckten Ort gehörte. Diesen Geruch, den auch die Krähenfrau verströmt
hatte.
    »Hier in dieser Ecke habe ich viele Nächte geschlafen.«
    »Ich ahnte«, erwiderte Anselmo leise, »dass du zu der Hütte
willst, in der dich diese Frau damals aufgenommen hat.«
    »Ja, so gern würde ich sie noch einmal treffen. Es hat eine lange
Zeit gedauert, bis mir klar wurde, dass sie viel mehr weiß. Viel mehr als das,
was sie mir erzählte.«
    »Wahrscheinlich hält sie sich noch irgendwo hier auf. Wir stoßen
vielleicht in einem der umliegenden Dörfer auf sie.«
    »Hm.« Bernina hob nachdenklich die Schultern. »Schon möglich. Aber
vorher möchte ich erst noch woanders hin. An einen Ort, mit dem ich viele
schöne Erinnerungen verbinde. Aber auch eine grauenhafte.«
    »Ich kann mir schon denken, welchen du meinst.« Er legte seinen
Arm um sie.
    »Ich muss dorthin gehen. Ich muss noch einmal dieses Zimmer sehen.
Auch wenn es mir am Ende gar nichts einbringt.«
    »Du weißt ja: Ich bin an deiner Seite.«
    Sie setzten ihren Weg fort. Offenbar hatte es hier viel geregnet
in diesem Sommer. Die Stämme der Bäume und der Boden waren von Moos
überwuchert, überall Unkraut, wilde Blumen. Die Schuhe sanken immer wieder tief
ein in den sumpfig nassen Untergrund.
    Erneut fand sich Bernina ohne Schwierigkeiten zurecht. Sie
durchquerten den verwachsenen Wald, der sie in sein Inneres zu ziehen schien,
fast wie ein lebendiges Wesen. Das Klopfen eines Spechts begleitete sie ein
Stück weit, unvermittelt stießen sie auf zwei Rehe, die sofort das Weite
suchten. Und bald darauf öffnete sich dieser aus Bäumen gebildete Vorhang. Der
Himmel kam in Sicht, wieder einmal grau, wieder einmal tief über dem
Schwarzwald hängend. Obwohl es kurz nach Mittag war, sah es aus, als könnte
sich jeden Moment tiefe Dunkelheit auf das Tal hinabsenken.
    Berninas Kehle war trocken, als ihr Blick die verfallenen Gebäude
erfasste. Nichts schien sich verändert zu haben. Der Petersthal-Hof mit seinen
niedergebrannten Ställen und Unterkünften und Vorratsschuppen. Und mit diesem
Haupthaus, das den Flammen trotzte und dann durch einen platschenden
Frühlingsregen vor der endgültigen Zerstörung bewahrt wurde.
    »Willst du wirklich hineingehen?«, fragte Anselmo. »Dein Gesicht
ist auf einmal so anders.«
    »Ja, ich will es unbedingt.«
    Ihr Blick tastete noch immer alles ab, was sich hier vor ihnen
ausbreitete. Als erwartete sie, dass der Hof plötzlich zu neuem Leben erwachen
würde. Doch dieses stille Bild der Zerstörung und des Todes war wie für alle
Ewigkeit eingefroren. Das einzige Zeichen von Leben war eine Krähe, die den Hof
in einer sanften Kurve überflog, auffallend langsam, ohne ein Krächzen.
    Bernina befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze. Sie ging
los, noch dichter als zuvor gefolgt von Anselmo. Durch die offene, halb in den
Angeln hängende Tür betrat sie das Hauptgebäude. Sogar jetzt noch haftete dem
Gemäuer der Geruch an, der den Hof immer schon beherrscht hatte. Bernina spürte
Vertrautheit, und nach wie vor diese Anspannung unter der Haut.
    Sie hielten sich erst gar nicht im Erdgeschoss auf, in dem noch
immer das Durcheinander zu

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