Das Geheimnis der Krähentochter
ganze Zeit gab es etwas,
das mich mit ihm verband. Ich fühlte es. Jetzt weiß ich endlich, was das war.
Er war mein Vetter, und ich hatte mich in ihn verliebt. Und am Ende war
ausgerechnet ich es, die ihn in den Tod trieb.«
Rasch sagte Anselmo: »Bitte, Bernina. Quäl dich bloß nicht mit
solchen Gedanken.«
»Es ist doch so. Ich hätte nicht auf Balthasar hören und
Falkenberg mitnehmen dürfen. Wir hätten ihn einfach in diesem Turm in Offenburg
zurücklassen sollen.«
»Das mag ja sein. Aber du weißt, wie angespannt wir alle waren,
wie kopflos. Wir fürchteten um unser Leben. Bernina, gehe nicht so hart mir dir
ins Gericht. Meiner Meinung nach war der Oberst längst verloren. Er wollte
sterben.«
Sie lehnte sich an Anselmos Brust und
schloss die Augen. »Ich bin müde. Und trotzdem glaube ich nicht, dass ich heute
Nacht schlafen kann. Wahrscheinlich werde ich mich ganz nahe ans Kaminfeuer legen
und mir diese Chronik vornehmen. Weißt du, ich habe nämlich lesen gelernt. Eine
gute Freundin, die ich gerne einmal wiedersehen würde, hat es mir beigebracht.
Noch beherrsche ich es nicht gut genug, aber ich werde an mir arbeiten.«
Anselmo lachte leise. »Ich bin sicher, dass du schon bald die
ganze Chronik gelesen hast. Bis zum letzten Wort. Das hat mir immer ganz
besonders an dir gefallen. Wie sehr du dich einer Sache widmen kannst, mit so
viel Hingabe. Wie damals beim Seiltanz.«
*
Es war kurz vor dem Morgengrauen, als Bernina erwachte. Sie lag
neben dem Kamin, die beschriebenen Blätter um sich herum verteilt. Jemand hatte
eine Decke über ihr ausgebreitet, nachdem sie doch noch eingeschlafen war. Die
Luft im Zimmer war kalt. Cornix war schon wieder dabei, ein Feuer zu entzünden.
Bernina richtete sich auf und streckte die Arme. Anselmo hatte dicht neben ihr
geschlafen, aber jetzt war nichts von ihm zu entdecken. »Wo ist Anselmo?«,
fragte sie.
Langsam stand die Krähenfrau auf. Sie sah auf Bernina hinab. »Würdest
du mich Mutter nennen? Nur einmal. Auch wenn ich es nicht verdient habe. Aber
ich habe mir in Gedanken so oft vorgestellt, wie du Mutter zu mir sagst.«
Bernina lächelte. »Natürlich hast du es verdient.« Sie stand auf
und legte die Arme um Cornix. »Mutter.«
»Meine kleine Bernina.«
»Mutter, sagst du mir jetzt, wo Anselmo ist?«
»Er ist eben aufgestanden und nach draußen verschwunden. Ich habe
ihn wohl aus Versehen aufgeweckt, als ich das Holz in den Kamin schob.«
Bernina löste sich behutsam von ihr. Sie ging nach draußen, wo sie
von den Resten der sich auflösenden Nachtluft empfangen wurde. Anselmo stand
nicht weit vom Eingang entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick
ins durchlässiger werdende Dunkel gerichtet.
Sie gab ihm einen Kuss. »Anselmo, du siehst so nachdenklich aus.«
»Nicht nur dich, auch mich bringt etwas ins Grübeln.«
»Was?«
»Sieh mal, ich bin noch niemals sesshaft gewesen.« Anselmo hob die
Achseln. »Vielleicht ist ja jetzt der richtige Zeitpunkt, es damit zu
versuchen.«
»Ach, und wie kommst du darauf? Wir wollten doch wieder durch die
Welt ziehen?«
»Ja, aber du hast jetzt viel Verantwortung. So wie ich es
verstanden habe, bist du die Letzte der Falkenbergs. Und wie ich dich kenne,
wirst du nun nicht einfach aufbrechen, ohne dir zumindest Klarheit zu
verschaffen.«
»Du meinst, ich sollte das Erbe der Falkenbergs antreten?«
»Natürlich, das ist das Vermächtnis deines
Vaters. Auch deshalb wollte er, dass du die Familienchronik erhältst.«
»Und was sollte ich deiner Meinung nach tun? Was würdest du jetzt
als Erstes machen?«
»Ich weiß es nicht.« Anselmo sah sie an. »Aber wahrscheinlich
würde ich damit beginnen, diesen Hof hier wieder aufzubauen. Und wenn es bloß
aus Trotz wäre. Einfach nur weil dieser verdammte Kerl ihn verwüstet hat.« Ein
Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
»Aber wie könnte ich das schaffen?«
»So, wie du alles bisher geschafft hast. Mit Mut und
Entschlossenheit und Beharrlichkeit.«
Bernina ließ den Blick über den Hof wandern, von dem sich immer
mehr Konturen aus der Morgendämmerung schälten. »Womöglich würde mir das ja
tatsächlich gelingen.«
»Obwohl man natürlich nicht vergessen darf«, warf Anselmo immer
noch lächelnd ein, »dass du praktisch allein bist. Oder denkst du vielleicht,
nur mithilfe einer Hexe und eines Gauklers kannst du alles bewältigen?«
Bernina ergriff seine Hand. »Wenn diese Hexe meine Mutter ist und
wenn ich diesen Gaukler liebe und wenn
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