Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
der Victoria Regia etwa eine Stunde vor Abfahrt des Schiffes gebucht habe. Ein junger Mann, der den Arm in einer Schlinge getragen habe.
Mein Gott!, dachte Robert. Ich war so nah.
„Nachdem sein Arm versorgt war“, fuhr Luke fort, „wollte er vom Arzt ’nen Bleistift hab’n. Dann schrieb er die beiden Briefe, die ich Ih’n gegeben hab’, und bezahlte den Wundarzt für seine Mühe. Am Bahnhof gab er mir die Briefe und zeigte mir, welcher für Sie und welcher für die Lady war. Dann stieg er in ’nen Waggon zweiter Klasse und war weg.“
„Armer George! Armer George!“
„Ich geh’ also direkt zum Sun Inn, wo ich nach Ihnen fragte, aber Sie waren schon fort und eine Adresse von Ihn’ hatte der Wirt auch nich’. Also bin ich zu Phoebe, um Mylady ihren Brief zu geben. Ich hatt’ noch nich’ lang’ mit ihr geredet, als ich schon merkte, dass mit ihr was nich’ stimmte. Sie grinste so eigentümlich. Und das hab’ ich ihr auch gesagt. Hab’ sie gefragt, ob sie Ärger mit der Lady hatte. Sie gab mir nich’ gleich ’ne Antwort, sondern lächelte das komischste Lächeln, das ich je geseh’n hab’. Und dann sacht sie mir, sie weiß ein Geheimnis von Mylady und dass dieses Geheimnis uns zu unserem Wirtshaus verhelfen wird. Sie hat es aus ihrem Fenster gesehen! Jawoll, das hat sie gesagt! Sie erzählte mir, dass sie bei der Arbeit gesessen hätt’ und auf den Brunnen gekuckt, und da hätt’ sie auch Mylady mit ’nem fremden Gentleman geseh’n ...“
„Halt!“, rief Robert Audley. „Ich kenne den Rest.“
„Also, Phoebe erzählte mir alles, was sie geseh’n hatte, und da wusste ich, dass ich Mylady den Brief nicht geben würd’. Wegen dem Wirtshaus. Phoebe hatte so was wie ein schlechtes Gewissen, aber nich’ lang. Nur dass sie nicht wusste, dass der Gentleman noch lebte. Deshalb gab ich den Brief nicht ab. Und bis zum heutig’n Abend hat keine Sterbensseele von dem Gentleman und den Briefen gewusst.“
Luke Marks war am Ende seiner Geschichte angelangt. Durch das lange Reden ermattet, lag er nun still da. In Erwartung von Vorwürfen oder ernsten Vorhaltungen beobachtete er Robert Audleys Gesicht. Robert jedoch machte ihm keinerlei Vorhaltungen. Er fand keinen Gefallen daran, eine Aufgabe zu übernehmen, für die er sich nicht geeignet hielt. Marks’ eigene Sünde war auf ihn selbst zurückgefallen, denn wäre Myladys Gewissen beruhigt worden, dann hätte sie auch das Castle Inn nicht in Brand gesteckt.
Voll reuiger Demut dachte Robert nun an die Schlussfolgerungen, die er gezogen und aufgrund derer er gehandelt hatte. Er erinnerte sich, wie blind er den erbärmlichen Erleuchtungen seines eigenen Verstandes vertraut hatte. Doch er fand auch Trost in dem Gedanken, dass er nur gewissenhaft versucht hatte, seine Pflicht zu tun – getreu gegenüber den Toten wie den Lebenden.
Bis lange nach Tagesanbruch saß Robert Audley noch bei dem kranken Mann, der, kurz nachdem er seine Geschichte beendet hatte, in einen tiefen Schlaf gesunken war.
Robert jedoch konnte nicht schlafen. Er konnte nur Gott für die Errettung seines Freundes danken. Nun war es ihm endlich vergönnt, zu Clara Talboys zu gehen und zu sagen: „Ihr Bruder lebt.“
Am nächsten Morgen machte Robert Audley sich auf, um im Sun Inn ein Bett zu bekommen. Die Dämmerung war schon fast hereingebrochen, als er aus einem langen, traumlosen Schlaf erwachte. Er kleidete sich an, bevor er sich zum Dinner in den kleinen Wohnraum begab, in dem er und George noch wenige Monate zuvor zusammengesessen hatten. Der Wirt selbst bediente ihn und berichtete, dass Luke Marks verstorben sei.
An diesem Abend schrieb Robert Audley einen langen Brief, der an Madame Taylor, in der Obhut von Monsieur Val in Villebrumeuse, gerichtet war. Es war ein ausführlicher Brief, in dem er die Geschichte, die der sterbende Mann ihm berichtet hatte, jener elenden Frau erzählte, die schon so viele Namen gehabt hatte und für den Rest ihres Lebens einen falschen führen musste.
8. Kapitel
C lara Talboys reiste nach Dorsetshire zurück, um ihrem Vater zu berichten, dass sein einziger Sohn nach Australien gesegelt sei und höchstwahrscheinlich noch lebe. Vielleicht würde er eines Tages heimkehren und um die Vergebung des Vaters bitten, den er niemals sonderlich gekränkt hatte, außer dadurch, dass er den schrecklichen Fehler einer Heirat begangen hatte, die einen so verhängnisvollen Einfluss auf seine Jugend ausüben sollte. Mr Harcourt Talboys
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