Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
erforderlichen Erkundigungen über jene Schiffe einzuziehen, die im Juni von Liverpool nach Sydney segeln würden. Er traf Mrs Maloney dabei an, wie sie die Treppen scheuerte, so wie es an Samstagabenden stets ihre Gewohnheit war. Deshalb musste er sich durch eine Wolke seifigen Wasserdampfes seinen Weg nach oben bahnen.
„Da sind ’ne Menge Briefe, Euer Ehren“, sagte die Aufwartefrau, während sie sich von den Knien erhob und sich dann gegen die Wand drückte, um Robert vorbeigehen zu lassen, „und da sind auch einige Pakete. Und dann is’ da ein Gentleman, der wer weiß wie oft gekommen is’ und heut’ Abend auf Sie wartet. Ich hab’ ihm erzählt, Sie hätten mir geschrieben, um mir zu sagen, dass Ihre Räume gelüftet werden sollen.“
„Sehr gut, Mrs Malony. Sobald es Ihnen passt, können Sie mir etwas zum Dinner und ein Pint Sherry besorgen.“ Gemächlich ging er hinauf zu seinen Räumen, um festzustellen, wer denn dieser Besucher war. Es konnte kaum jemand von Bedeutung sein. Wahrscheinlich ein drängender Gläubiger, denn als Robert in Eile aufgebrochen war, um Mr Talboys’ Einladung Folge zu leisten, hatte er seine Angelegenheiten im wüstesten Durcheinander zurückgelassen. Und danach hatte er zu hoch oben im erhabenen Himmel der Liebe geschwebt, um sich derart profaner Dinge wie etwa unbezahlter Rechnungen zu erinnern.
Robert öffnete die Tür seines Wohnzimmers und ging hinein. Die Kanarienvögel sangen gerade ihren Abschiedsgruß an die untergehende Sonne, und der fahle gelbe Schein flimmerte auf den Blättern der Geranien. Der Besucher saß mit dem Rücken zum Fenster und hatte den Kopf auf die Brust gesenkt. Er sprang jedoch auf, als Robert das Zimmer betrat.
Robert stieß einen lauten Schrei freudiger Überraschung aus und breitete seine Arme weit aus für seinen verlorenen Freund, George Talboys.
Mrs Maloney musste noch mehr Wein und noch mehr zum Dinner aus jener Taverne besorgen, die sie mit ihrer Gunst beehrte. Die beiden jungen Männer saßen bis tief in die Nacht vor dem Kamin und hatten sich viel zu berichten. Nur beiläufig berührte Robert jenes Thema, von dem er wusste, wie zutiefst schmerzlich es für seinen Freund war. Auch George Talboys sprach nur kurz über jenen sonnigen siebten September, an dem er seinen schlafenden Freund am Ufer des Forellenbaches zurückgelassen hatte, um seine falsche Frau jener Verschwörung zu bezichtigen, die ihm fast das Herz gebrochen hatte.
„Meine Schulter war verletzt, und ich hatte mir den Arm an der Brunnenwand gebrochen. In Australien hatte ich gelernt zu überleben, darum konnte ich den Brunnen hochklettern. Seine Steine sind roh behauen und unregelmäßig. Ich arbeitete mich nach oben und versteckte mich, bis mich dieser Mann fand.“
Robert nickte. „Sein Name war Luke Marks. Er hat mir alles erzählt.“
„War?“
„Er wurde das Opfer und gleichzeitig der Verursacher einer schlimmen Sünde.“ Mehr wollte Robert nicht sagen, und sein Freund gab sich vorerst damit zufrieden. „Warum hast du die Frau nicht zur Rechenschaft gezogen, George?“, wollte Robert wissen.
George überlegte. „Ich wollte Helen ihrer Strafe überantworten, doch gleichzeitig auch nicht. Sie war meine Liebe gewesen. Ein Rest davon lebte noch immer in meinem Herzen, auch wenn die Welt es niemals verstehen wird. Sie wollte mich nicht mehr, und ich wollte kein Leben mehr mit ihr. Wenn ich schon unglücklich durch dieses Leben wandern sollte, sollte wenigstens sie glücklich werden.“
George war letztlich doch nicht nach Australien zurückgefahren. Er hatte in irgendeinem Hafen das Schiff gewechselt und war nach New York gereist. Dort war er geblieben, solange er die Trostlosigkeit seines Exils und die Einsamkeit eines Daseins ertragen konnte, das ihn von seiner Heimat trennte. „Ich sehnte mich nach einem festen Händedruck, Bob. Du hast mich durch die finsterste Phase meines Lebens geleitet. Ich war dir eine Erklärung schuldig. Darum kam ich zurück.“
9. Kapitel
Z wei Jahre sind seit jenem Abend im Mai vergangen, an dem Robert seinen alten Freund wiederfand. Mr Audleys Traum von einem zauberhaften Landhaus ist zwischen Teddington Locks und Hampton Bridge Wirklichkeit geworden. Inmitten eines kleinen Laubwaldes steht nun ein traumhaftes Fachwerkhaus, dessen Fenster auf den Fluss blicken. Auf dem abfallenden Ufer spielen zwischen Lilien und Binsen ein munterer Junge von acht Jahren und ein Baby auf wackeligen Beinen. Mr
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