Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
einem gespenstischen Grinsen. „Aber angenommen, Mylady hätt’ ein Geheimnis gehabt und ich ein and’res. Was dann?“
„Was meinen Sie damit?“
„Angenommen, ich hätt’ die ganze Zeit schon was erzählen können und hätt’s vielleicht auch getan, wenn man mich nur ein bisschen besser behandelt hätt’. Was dann?“ Es ist unmöglich, das Gespenstische dieses triumphierenden Grinsens zu beschreiben, welches das hagere Gesicht des Mannes überzog.
Sein Geist fantasiert, dachte Robert. Ich muss Geduld mit ihm haben, dem armen Kerl. Mit diesem Grinsen lag Luke Marks da und starrte Mr Audley minutenlang an.
Ermüdet durch die Wache am Bett ihres sterbenden Sohnes war die alte Frau eingenickt, das spitze Kinn herabgesunken. Mr Audley wartete geduldig, bis es dem kranken Mann wieder belieben würde zu sprechen.
In dieser stillen Nacht war jedes Geräusch beinahe schmerzhaft deutlich vernehmbar. Das Fallen der Asche in der Feuerstelle, das bedrohliche Knistern der brennenden Kohle, das langsame, gewichtige Ticken der Uhr im unteren Raum und das leise Stöhnen des Märzwindes. Das raue Atmen des kranken Mannes unterschied sich jedoch von all den anderen Lauten und wurde zu einer eigenen Stimme, die sich in der tiefen Stille des Hauses mit unheilvoller Vorahnung erhob.
Plötzlich schreckte eine Bewegung des kranken Mannes Robert auf. Der Mann richtete sich in seinem Bett auf und rief nach seiner Mutter. Mit einem Ruck wachte die alte Frau auf und eilte verschlafen zu ihrem Sohn.
„Was is’, Luke, Lieber?“, fragte sie besänftigend. „Es is’ noch nich’ Zeit für das Zeug vom Doktor.“
„Wer sagt denn, dass es das Zeug vom Doktor is’, was ich will“, rief Mr Marks ungehalten. „Ich will dich was fragen, Mutter. Erinnerst du dich an den siebten September?“
Robert fuhr in die Höhe und betrachtete den kranken Mann aufmerksam. Warum bestand er darauf, das Datum von Georges Ermordung in Erinnerung zu bringen?
Die Alte schüttelte leicht den Kopf. „Mein Gott, Luke“, sagte sie, „wie kannst du mir solche Fragen stellen? Mein Gedächtnis hat die letzten Jahre nachgelassen. Wie soll sich ’ne arme arbeitende Frau auch an solche Sachen erinnern?“
Luke Marks zuckte ungeduldig mit den Achseln. „Du bist mir ja die Rechte, die nicht tut, um was man sie bittet, Mutter“, antwortete er griesgrämig. „Hab’ ich dir nie gesagt, es könnt’ mal die Zeit kommen, wo du bezeugen musst, was war, und wo du ’nen Eid auf deine Bibel schwören musst? Hab’ ich dir das nich’ gesagt, Mutter?“
Die alte Frau schüttelte den Kopf und blickte ängstlich zu Robert. „Wenn du’s sagst, dann bin ich sicher, dass du’s getan hast, Luke“, erwiderte sie mit versöhnlichem Lächeln, „aber ich kann mich nich’ erinnern, Liebchen. Mein Gedächtnis“, fügte sie, sich an Robert wendend, hinzu, „ich bin eben nur ’ne arme Kreatur.“
Mr Audley legte die Hand auf den Arm des Kranken. „Marks“, sagte er, „ich erkläre Ihnen noch einmal, dass Sie keinen Grund haben, sich über diese Angelegenheit Gedanken zu machen. Ich stelle Ihnen keine Fragen. Ich habe nicht den Wunsch, irgendetwas zu hören.“
„Aber angenommen, ich will was sagen“, rief Luke mit fieberhaftem Nachdruck. „Angenommen, ich hab’ das Gefühl, ich kann nich’ sterben mit ’nem Geheimnis auf meiner Seele und hab’ Sie sehen wollen, weil ich’s Ihnen erzählen will.“ Er stieß diese Worte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und warf wütend finstere Blicke um sich.
„Marks, um Himmels willen, beruhigen Sie sich“, rief Robert. „Wovon reden Sie? Was ist das, was Sie hätten erzählen können?“
Luke wischte über seine trockenen Lippen. „Gib mir was zu trinken, Mutter.“ Die Alte goss einen kühlen Trunk in einen Becher und trug ihn zu ihrem Sohn. Gierig trank er diesen in hastigen Zügen, so als wisse er, dass die kurze, verbleibende Spanne seines Lebens einen Wettlauf mit jenem gnadenlosen Wanderer, der Zeit, bedeuten werde.
„Bleib, wo du bist“, sagte er zu seiner Mutter und deutete auf einen Stuhl am Fußende des Bettes. Die alte Frau gehorchte und nahm demütig gegenüber von Mr Audley Platz. Sie holte ihr Brillenkästchen hervor, putzte die Brille, setzte sie auf und strahlte ihren Sohn sanftmütig an, so als hege sie die schwache Hoffnung, dass ihrem Gedächtnis durch diese Prozedur geholfen werden könne.
„Ich werd’ dir ’ne andere Frage stellen, Mutter“,
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