Das Geheimnis der Maurin
Hände voll zu tun hatte, aber als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, wuchs ihre Nervosität. Zu allem Übel brauten sich am Nachmittag dicke, schwarze Wolken zusammen, die nichts Gutes verhießen, und kurze Zeit später schüttete es tatsächlich in Strömen. Zahra, die gerade aus der Tunika einer der Verstorbenen neues Verbandsmaterial riss, sah besorgt zu ihrem kleinen Sohn und Tamu. Sie hatten sie und die anderen Verletzten unter die Büsche gebettet, aber bei dem heftigen Regen boten die Blätter keinen nennenswerten Schutz.
Durch das Prasseln des Regens hörte sie Khadidscha rufen: »Herrin, Ihr müsst kommen, ich glaube, er ist …« Ihre Worte ertranken in aufquellenden Schluchzern. Rasch eilte Zahra zu ihr und dem Geleitsoldaten, dessen Unterschenkel im Kampf zerfetzt worden war. Sie kniete sich vor den Mann, fühlte ihm den Puls und hielt zur Sicherheit noch ihre Wange vor Nase und Mund, doch sein Lebenshauch war versiegt. Lähmende Verzweiflung überkam sie. Tamu hätte dem Mann sicher den Unterschenkel abgenommen, damit er nicht durch die vielen klaffenden Wunden nach und nach verblutete, aber sie hatte es nicht gewagt, sondern nur die größten Wunden genäht, bei denen sie noch einigermaßen etwas hatte zusammenfügen und schließen können. Offensichtlich war das die falsche Entscheidung gewesen. Sie blickte zu ihrem kleinen Sohn und Tamu, bat den Allmächtigen voller Inbrunst, dass er die beiden wieder gesund werden ließ, und wisperte ein jämmerlich klingendes »inschallah« hinterher – so Gott will.
II.
Santa Fe
10 . Dezember 1491
D as Warten und die Ungewissheit drückten Jaime wie eine Zentnerlast nieder. Er merkte, dass er die Hände vor lauter Ungeduld schon wieder zu Fäusten geballt hatte, zwang sich, sie zu lockern, und lief erneut rastlos vor Gonzalos Empfangszimmer auf und ab. Dabei versuchte er, sich mit dem Gedanken abzulenken, dass man über die kastilische Königin Isabel denken konnte, wie man wollte, ihr aber zumindest in einem Punkt Achtung zollen musste: Sie war zweifelsohne eine ausgesprochen findige Herrscherin. In den letzten Jahren hatte sie so manches vollbracht, was an Wunder grenzte – Wunder wie dieses Haus und zahllose andere, die hier in Santa Fe innerhalb weniger Wochen quasi aus dem Nichts hochgezogen worden waren. Mit dem Bau dieser Häuser hatte Isabel den Mauren vor Augen führen wollen, dass sie auch der Winter nicht von der Fortsetzung der Belagerung Granadas abhalten würde. Hundertfünfzig Maurer und über fünfzig Schreiner hatten am Bau von Santa Fe mitgewirkt. Und ihr Plan ging auf: Die Mauren, die schon seit Monaten von den Christen in ihrer eigenen Stadt – einer Stadt mit mehr als zweihunderttausend Bewohnern! – von der Außenwelt abgeschnitten worden waren, hatten einsehen müssen, dass Isabel nie mehr von ihnen ablassen würde. Entweder sie kapitulierten – oder sie würden den Tod finden. Auch Jaime und seine Familie hatten zu den Hungernden gehört, die schließlich dem Emir klarmachten, dass weiteres Ausharren nur noch mehr Menschenleben fordern würde. Trotzdem war es für alle ein schwerer Tag gewesen, als Boabdil seine Gesandten nach Santa Fe schickte, um den Katholischen Königen ihre Kapitulation zu überbringen. Über so viele Jahre hatten sie gekämpft – und letztlich alles verloren. Am zweiten Januar würde Boabdil den Katholischen Königen die Schlüssel der Stadt überreichen: der letzte symbolische Akt, der die Christen zu den neuen Herrschern des Maurischen Königreichs erheben und den Schlusspunkt unter eine Ära setzen würde, die fast achthundert Jahren Bestand gehabt hatte.
Als Jaime sah, wie Gonzalos Knappe aus dem Empfangszimmer kam und direkt in den nächsten Raum verschwinden wollte, eilte er ihm nach und hielt ihn am Arm fest. »Wie lange muss ich denn noch warten, von deinem Herrn empfangen zu werden?«, knurrte er ihn an.
Mit arrogant erhobenen Augenbrauen blickte der sicher kaum fünfzehnjährige Bursche auf Jaimes Hand herab, mit der dieser ihn weiterhin gepackt hielt. In Jaime zuckte es. Am liebsten hätte er den Lümmel am Kragen gepackt und ihn so lange geschüttelt, bis ihm seine widerwärtige Selbstherrlichkeit wie Schuppen vom Gesicht fiel, aber leider war er in Turban, Tunika und Pluderhose gehüllt, und als vermeintlicher Muslim war es nicht ratsam, Hand an einen Christen zu legen. In kastilischer Kleidung herzukommen, war Jaime zu gefährlich erschienen: In der Stadt hätte er allzu
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