Das Geheimnis der Maurin
größere Aufgeregtheit hineinredete, die Chalida weit mehr beunruhigen als beruhigen konnte. Doch allein beim Gedanken, der Wärter könne Chalida mit in die Folterkammer nehmen, blieb ihr fast das Herz stehen. Um ihre Tochter nicht noch mehr zu ängstigen, wandte sie sich wieder Esther zu, konnte sich im Moment aber auch auf diese nicht konzentrieren. Jaime, das war alles, was in ihrem Kopf noch Raum hatte. Verdammt, Jaime, wo bist du? Warum holst du Chalida nicht endlich hier heraus? Und zugleich gingen ihr wieder ihre letzten Worte durch den Kopf. Ja, natürlich hatte Jaime bisher immer einen Weg gefunden, und noch nie, nie, nie hatte er sie im Stich gelassen, ganz gleich, wie wütend er auf sie gewesen sein mochte. Auch jetzt zweifelte sie nicht daran, dass er Chalida helfen würde – und verspürte mit einem Mal eine solche Sehnsucht nach ihm, dass es ihr schier den Atem nahm.
Verdammt, dachte sie, selbst hier, selbst jetzt bin ich noch voll von Liebe zu dir, und als ihr bewusst wurde, dass sie Jaime womöglich niemals wiedersehen würde, tat ihr Herz so weh, dass sie die Faust auf die Brust drücken musste, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Nie mehr würde sie ihm sagen können, wie leid ihr letzter Streit ihr tat, und auch nicht, dass sie ihm in Wahrheit gar keine Vorwürfe machte, weil sie letztlich so dachte wie Esther. Sie war nur so erbost, so verletzt, so verzweifelt über alles gewesen, was die Christen ihrem Volk angetan hatten, dass sie auch Jaime gegenüber immer ungerechter geworden war …
Zahra presste die Lippen zusammen. Die ganze Wut, Enttäuschung und Verbitterung, die sie in den letzten Wochen Jaime gegenüber empfunden hatte, ertrank in der Milde, die die Worte der Jüdin in ihr hinterlassen hatten, einer Milde, gegen die sie sich gerade in diesem Moment wehrte, in dem sie die arme Frau so jämmerlich zugerichtet vor sich liegen sah. Mein Gott, stöhnte Zahra, wenn sie nur weiter unter Boabdil hätten leben können, dann gäbe es diesen ganzen Hass und Zwang und die Verfolgungen nicht – und vielleicht, sagte sie sich, vielleicht hätte Chalida dann auch den Mut aufgebracht, ihr einfach zu sagen, dass sie Aaron liebte, und sich nicht in diese Seelenqual gestürzt. Und womöglich hätte sie sich von ihr sogar tatsächlich umstimmen lassen …
»Jaime wird kommen«, sagte sie noch einmal zu Chalida und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Er wird kommen!«
Wenig später brach die Dämmerung herein. Binnen kürzester Zeit war es so finster im Kerker, dass sie die Hand kaum noch vor den Augen erkennen konnte. Ihr einziger Trost an diesem Abend war, dass Esther inzwischen wieder zu sich gekommen war und sogar etwas getrunken und gegessen hatte – so sinnlos dies auch sein mochte, wenn sie letztlich doch auf dem Scheiterhaufen enden würde. Genau wie sie selbst. Trotzdem hatte auch sie gegessen.
Zahra hörte ihre Tochter neben sich atmen, ganz ruhig schlief sie, auch alle anderen im Kerker schienen zu schlafen. Sanft strich sie Chalida übers Haar, rückte noch etwas näher an sie heran und hatte das Herz so übervoll, dass sie sie am liebsten in die Arme genommen und an sich gepresst hätte. Wer wusste schließlich, wie lange sie dazu noch die Möglichkeit hatte? Auch an ihre drei anderen Kinder musste sie denken und daran, dass sie sie wohl niemals wiedersehen würde … Aber trotzdem es ihr vor Schmerz fast das Herz zerriss, war sie davon überzeugt, dass sie nicht anders hatte handeln können, und hoffte inständig, dass ihre Kinder dies eines Tages verstehen oder ihr wenigstens würden verzeihen können. Dann fragte sie sich erneut, warum Jaime Chalida nicht schon längst abgeholt hatte. Er war doch Christ, Chalida seine Tochter … Warum dauerte das so lange?
Unruhig erhob sich Zahra, tastete sich an den Wänden entlang in Richtung des schmalen Oberlichts und sog gierig die kalte Nachtluft ein, eine Wohltat nach dem scharfen Geruch hier drinnen nach Urin, Schmutz und fauligem Stroh. Als sie sich zurück zu ihrem Platz tasten wollte, hörte sie Schritte. Unwillkürlich wandte sie den Kopf in Richtung der Kerkertür, merkte dann aber, dass die Schritte von oben kamen. Auch gedämpfte Männerstimmen machte sie nun aus, und schließlich meinte sie eine von ihnen sogar zu erkennen.
»Jaime?«, hauchte sie atemlos. »Bist du das?«
Sie lauschte, doch da war nichts zu hören – außer ihren eigenen Atemgeräuschen. Sie dachte schon, sich die Stimmen
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