0978 - In den Ruinen von London
1.
Wenn Carrie-ohne-Haar bei den Blumen war, vergaß sie alles, selbst ihre Krankheit, durch die sie ihre Haare verloren hatte.
Na ja, nicht durch die Krankheit, sondern durch die saublöde Chemo, wie ihre Mum es an einem Tag, als es ihr selbst nicht so gut gegangen war, entnervt erklärt hatte.
Die Chemo fand Carrie auch blöde, danach war ihr tagelang schlecht, und sie magerte auch von Mal zu Mal mehr ab. Mittlerweile waren ihre Arme nicht mehr dicker als die Stängel ihrer Lieblingsblumen.
»Carrie! Hörst du nicht? Wo bist du denn?«
Endlich riss sich die Elfjährige von ihrer Beschäftigung los. Sie stellte die alte Gießkanne ab, die ihrer Oma gehört hatte, und wandte sich dem Haus zu. »Hier! Ich bin hier! Ich spiele! Lass mich doch noch ein bisschen…«
»Ich würd’ ja gern, Liebes. Aber was die im Radio sagen, hört sich wirklich nicht gut an. In der Stadt passieren komische Dinge!«
»Wir sind nicht ›in der Stadt‹, Mum. Du sagst doch immer, unser neues Häuschen liegt weitab vom Schuss. Also lass mich noch etwas, ja? Bitte!«
Tatsächlich lag das Grundstück in den Highgate Woods, etwas abseits der City. Wer hier in einem der sehr vereinzelt stehenden Cottages wohnte, fühlte sich fast wie auf einer Insel, abgeschottet von all dem Trubel, all der Hektik der sie umgebenden Metropole.
»Meine liebe neunmalkluge Carrie Hutchinson! Ich sage es zum allerletzten Mal!«
Carrie duckte sich unwillkürlich. Wenn ihre Mum »Carrie Hutchinson« zu ihr sagte, war ihr Geduldsfaden kurz vorm Zerreißen. Da sie höchst selten die Beherrschung verlor, bedeutete dies Alarmstufe Rot.
Mindestens.
»Ja, ja, ich komm ja schon.«
Seufzend streichelte sie über den tief hängenden Blütenkelch der Blume, die sie zuletzt gegossen hatte. »Ich muss leider schon. Aber ich komm wieder, keine Sorge.«
Sie erschrak, als etwas auf sie zukam - schattenhaft und federleicht.
Als sie sah, dass es sich um ein Blütenblatt handelte, größer als eine Männerhand, entspannte sie sich einerseits, auf der anderen Seite beunruhigte es sie, dass die Blume ein Teil ihrer nachtschwarzen Zierde verlor.
»Hab ich mich nicht gut genug um dich gekümmert?« Carrie bückte sie und hob das Blütenblatt auf, das sich samtig weich anfühlte. Sie wollte es betrachten…
... und erschrak zum zweiten Mal innerhalb einer Minute.
Aus der Schwärze des Blütenblatts blickte ihr Spiegelbild zu ihr empor.
Sofort fing Carries Herz ganz schnell an zu schlagen. Sie blickte über sich, wo die Blütenkelche der märchenhaft schönen Blumen sie weit überragten, und suchte dort in deren Schwärze ebenfalls nach ihrem Spiegelbild.
Aber die Blüten, die noch an den Blumen hingen, reflektierten nichts, waren einfach nur leuchtend schwarz.
»Komisch.«
Der Mund ihres Spiegelbilds bewegte sich, und Carrie glaubte, ein Echo daraus zu hören. »… misch…«
Das war unmöglich. Sie lachte unsicher.
Das Gesicht in der Schwärze lachte ebenfalls.
Und wieder war ein fernes Echo zu hören.
Carrie fröstelte, so stark, dass sie versucht war, das Blütenblatt einfach fallen zu lassen. Oder noch besser: wegzuwerfen.
Aber als ihre Mum im Tonfall einer allerletzten Verwarnung erneut nach ihr rief, behielt sie es doch in der Hand und bahnte sich geduckt einen Weg durch das Gestrüpp, hinter dem eine kniehoch mit Gras bewachsene Fläche bis hin zum hinteren Hauseingang führte.
Dort stand Carries Mum bereits mit todernster Miene, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
»Da hast du gerade noch mal Glück gehabt. Ich wollte dich schon holen kommen!«
»Sei doch nicht so schlecht gelaunt, Mum.«
Das half. Das half fast immer.
Ihre Mum konnte Carrie nicht ernsthaft böse sein. Seit die Ärzte die Krankheit an ihr festgestellt hatte, schon gar nicht mehr.
Carrie rannte das letzte Stück und schlang ihr Arme um ihre Mutter. »Schon gut. Lass uns reingehen. Ich mach dir einen Kakao. Den magst du doch.«
»Nur mit Keksen.«
»Kekse habe ich selbstverständlich auch.«
Carrie grinste und war froh, dass die letzte Chemo schon so lange zurücklag, dass sie wieder mehr Appetit hatte. Vor allem auf Süßes.
»Was hast du denn da?«
Carrie folgte dem Blick ihrer Mum zur Hand. »Hab ich gefunden. Hinten im Garten.«
»Wirf das weg!«
»Nein! Das ist wunderschön!«
»Es sieht aus wie ein vergammeltes, abgestorbenes Blatt!«
»Mum!«
»Na gut, dann behalt es eben. Aber das kommt mir nicht in die Küche. Bring es meinetwegen in dein Zimmer. Aber wasch dir
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