Das Geheimnis der Maurin
gefragt, ob ich nun dem rechten oder dem falschen Glauben angehöre, und dann musste ich mich, genau wie Ihr, taufen lassen – und ich fragte mich, welcher Sinn hinter all dem steckte. Der Zufall wollte es, dass ich wenige Tage nach der Zwangstaufe unseren alten Rabbi wiedertraf. Ich redete mit ihm über meine Verwirrung, meine Verzweiflung und Verlorenheit, woraufhin er mir diese Geschichte erzählte, die vor vierhundert Jahren von einem sephardischen Juden aufgeschrieben wurde …«
Nachdem Zahra ihr aufmunternd zugenickt hatte, fuhr die Alte fort: »Die Geschichte erzählt von dem Juden Melchisedech, der wegen seiner Weisheit weithin gerühmt war. Er wurde von König Saladin gefragt, welche der drei Religionen, die jüdische, die muslimische oder die christliche, er für die wahre halte. Der Jude begriff sofort, in welche Gefahr er sich mit einer Antwort begeben würde, und antwortete mit einer Parabel. Er erzählte ihm von einem vornehmen und wohlhabenden Mann, dessen wertvollster Besitz ein Ring war, der vom Vater auf den Sohn vererbt wurde, den er am meisten liebte und den er als seinen wahren Erben ausweisen wollte. Jetzt hatte dieser Vater aber drei Söhne, die ihm alle drei gleich tugendhaft, gehorsam und ehrbar erschienen und die ihm deswegen alle im gleichen Maße ans Herz gewachsen waren. Er konnte sich nicht entscheiden, welchem er den Ring vermachen sollte. So kam er auf die Idee, sich von dem Ring Duplikate fertigen zu lassen, und hinterließ, als er sich zum Sterben niederlegte, jedem seiner Söhne einen Ring. Als die Söhne nach seinem Tod merkten, dass sie alle drei mit einem Ring bedacht worden waren, begannen sie, um die Vorherrschaft zu kämpfen und damit auch um das Recht, als der Meistgeliebte zu gelten.«
»Und wer von ihnen konnte beweisen, dass er der rechte Sohn war?«, fragte Chalida.
»Keiner.« Die alte Jüdin lächelte sie an. »Und der Vater wollte ja auch keinen der drei vorziehen, weil er sie alle gleich geliebt hat. Es gab keinen richtigen und keinen falschen Ring.«
Chalida nickte. »Was die Geschichte sagen will, ist also, dass der Allmächtige den Völkern mit ihren Religionen auch drei Ringe gegeben hat? Und dass jedes Volk die Gesetze seiner Religion für wahr halten und glauben soll und darf, dass es seine Gebote unmittelbar von Gott erhalten hat, nicht wahr?«
»So sehe ich das jetzt auch, ja.« Die Jüdin nickte und wandte sich Zahra zu. »Und wenn Ihr mir auch das noch zu sagen erlaubt: In meinen Augen werden wir erst dann wahrhaftige Gläubige sein, wenn wir dies verinnerlicht haben, denn keine der drei Religionsgemeinschaften erlaubt das Töten, keine sucht den Kampf.«
»Was aber helfen uns Eure schönen Worte?«, fragte Zahra bitter. »Denn leider handeln die Menschen, die diese Religionen repräsentieren, anders, als ihre Glaubensbücher es ihnen vorschreiben! Allein der Zwang, den die Christen uns mit der Taufe auferlegt haben … Und dass Ihr, nachdem die Christen Euch gefoltert haben, noch ein Wort der Verteidigung für sie finden könnt …«
»Es ist der Mensch, der fehlbar ist, der Mensch gleich welcher Religion«, erwiderte die alte Jüdin sanft. »Nicht in der Bibel der Christen steht geschrieben, dass ich gefoltert werden soll, sondern der Inquisitor selbst hat dies verfügt – und auch er ist nur ein Mensch! Wir Menschen schaffen die Auseinandersetzungen der Religionen wegen, und wir tun es, weil vielen gar nicht bewusst ist, dass sich unsere Religionen so ähnlich wie leibliche Brüder sind! Ob wir nun den Sonntag, den Schabbat oder den Freitag ehren, zweimal am Tag in der Kirche oder fünfmal auf dem Gebetsteppich gen Mekka oder dreimal in der Synagoge beten, ob die Frauen ein Häubchen oder einen Schleier tragen, ob wir vierzig Tage vor Ostern, im Ramadan oder an festgeschriebenen Tagen wie an Jom Kippur fasten, ob wir Almosen geben, weil Gott uns Nächstenliebe geboten oder, wie im Koran, zum Zakat und im Judentum zur Zedaka verpflichtet sind, und ob wir den Allmächtigen Ewigen, Gott oder Allah nennen … Wo liegt da der große, der echte, der wahre Unterschied? Und ganz sicher rechtfertigt dies nicht, dafür Menschen zu foltern und zu töten!«
»Zu Zeiten des Königreichs Granada gab es diese Gleichstellung der Religionen«, erinnerte Zahra sie. »Und Frieden!«
»Ja, die Emire waren tatsächlich weit toleranter als die Katholischen Könige; niemand wurde gezwungen, seinen Glauben aufzugeben, sondern konnte ihn offen ausüben. Und
Weitere Kostenlose Bücher