Das Geheimnis der Maurin
ausrichten.
Steh uns bei, Allah, ta’ala.
Steh uns bei!
VIII.
Granada
1 . Mai 1492
I n den nächsten Tagen und Wochen setzten vor allem Abraham Seneor und Isaac Abravanel alle Hebel in Bewegung, um die christlichen Könige davon zu überzeugen, das Edikt zurückzunehmen, ohne bisher einen entscheidenden Schritt vorangekommen zu sein – und das, obwohl Seneor ein hochverdienter, enger Berater der Könige war und auch Abravanel dem Königshaus seit langen Jahren zu Diensten war. Das größte Problem der Juden war die Zeit: Die vier Monate bis zur Ausweisung waren knapp bemessen, zumal sie ja auch Haus und Landbesitz verkaufen mussten.
Allzu schnell war der erste Monat der Frist vergangen. An diesem Tag wollten der hochbetagte Seneor und sein alter Freund Abravanel erneut bei den Königen vorstellig werden. Da auch Juan an dem Treffen teilnehmen sollte, fand sich Jaime mit seinem Schützling als einer der Ersten im Thronsaal ein, der noch ebenso war, wie Boabdil ihn hinterlassen hatte: Der Thronsaal, der
salón de comares,
war das symbolische Zentrum der nasridischen Macht gewesen. Juan, der den quadratischen Saal zum ersten Mal betrat, blickte zur prachtvollen, fast sechzig Fuß hohen Decke mit ihren raffinierten Stuckarbeiten und den sieben Himmelssternen empor. Durch die arkadenförmigen Glasfenster flutete gleißendes Sonnenlicht in den Saal und beleuchtete die Nischen, in denen für die erwarteten Persönlichkeiten Stühle bereitgestellt worden waren. Juan schien fasziniert von den Wänden mit ihren bis unter die Decke filigran ausgearbeiteten arabischen Reliefmustern, Schriftzeichen und Keramikkacheln.
»Fast wie ein Wandteppich«, murmelte Juan und fragte Jaime, ob er wisse, was die Zeichen zu bedeuten hatten.
»Ja, mein Prinz. Dort steht: ›Es gibt keinen Sieger außer Allah.‹«
»Und was heißt das hier?« Der Junge zeigte auf eine Inschrift, die im Zierrahmen des Bogens der mittleren Kammer stand. Jaime ging näher und übersetzte nach kurzem Zögern: »Hilf mir, Gott, Peiniger des Satans. Im Namen Gottes, der barmherzig ist und Erbarmen hat. Sei, Gott, Begleiter und Retter unseres Herrn Mohammed und seiner Nachkommen. Und sprich: Meine Hilfe sei die Wut Gottes und der Geister, die die Hölle zerstören. Und befreie mich vom Übel der Neider, wenn sie mich neiden. Und keine andere Gottheit lebt außer Gott, den wir ewig preisen. Lob dem Gott der Jahrhunderte.«
»Hm«, machte der Infant. »Auf ihre Art glauben die Muslime also vielleicht auch irgendwie an Gott …«
Jaime war nahe daran, das »vielleicht« durch ein »ganz sicher sogar!« zu korrigieren und das »auf ihre Art« zu relativieren, indem er anmerkte, dass jede Religion »ihre Art« hatte, wagte es dann aber doch nicht. Er wusste, dass in Palästen Wände Ohren hatten.
»Torquemada und Deza übersetzen wir diese Zeichen aber besser nicht«, schickte Juan mit einem Augenzwinkern zu Jaime nach, woraufhin Jaime lachen musste und ihm verschwörerisch zunickte. Dann setzte sich der künftige Thronfolger in den Lehnstuhl, der direkt neben den Thronsesseln seiner Eltern stand – und Jaime bezog hinter ihm Stellung und hatte mit einem Mal das starke Gefühl, dass die Zukunft dieses Landes und damit die der Christen, der Muslime und der Juden in den Händen dieses Thronfolgers sehr gut aufgehoben sein würde, schon allein, weil er so viel feinfühliger und offener war als seine Eltern.
Eine halbe Stunde später betraten auch die Hoheiten den Saal und nahmen ihre Plätze ein. Ihnen folgten einige ihrer engsten Berater, unter ihnen natürlich Tomás de Torquemada, der Großinquisitor und einer der engsten Vertrauten der Königin. Jaime wunderte sich, dass dieser trotz seiner hohen Stellung noch immer in seiner groben, wollweißen Dominikanerkutte und derben Sandalen umherging. Als der Großinquisitor ihn bemerkte, trat in seine tiefschwarzen Augen ein Ausdruck von Widerwille, der Jaime wieder einmal deutlich vor Augen führte, dass seine Stellung hier bei weitem nicht so sicher war, wie er es sich und noch mehr Zahra gern vormachte – und nicht nur seine Stellung …
Nachdem auch Torquemada seinen Platz eingenommen hatte, hieß die Königin den Saalwächter, die Wartenden hereinzubitten. Er öffnete die hohe Flügeltür und ließ Abraham Seneor, Isaac Abravanel und vier weitere Vertreter der jüdischen Gemeinde Kastiliens eintreten. Dem achtzigjährigen Seneor wurde gestattet, sich auf einem Lehnstuhl niederzulassen, seine
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