Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Inseln glichen. Um den hageren Leib schlackerte die Dominikanerkutte. Raumgreifend kämpften sich seine Schritte vorwärts, während er sein Gesicht mit heftiger Abneigung von den Scheiterhaufen abwandte. Das Mädchen kannte den Mönch, doch wirkte seine feine Nase heute ungewöhnlich spitz, sein sonst lustig runder Mund klein und hart. Der Dominikaner war ein enger Freund ihres Vaters. Doch besaßen die Juden überhaupt Freunde? Das Mädchen zweifelte daran, seit die grundlose Gewalt über sie wie das Armageddon hereingebrochen war.
Der Mönch erreichte die Kinder im gleichen Moment, als die Feuerzungen laut prasselnd durch das Dach des Fachwerkhauses schlugen und Teile des Gebälks krachend einstürzten.
Schon stürzte mit viehischem Gesichtsausdruck der Chorherr in Begleitung zweier Männer aus dem Haus und hielt mit schmierigem Lächeln auf die Kinder zu. Der Chorherr fletschte unwillkürlich die Zähne, als er den Dominikaner entdeckte. Myriam spürte, wie der Mönch kräftig ihre Hand und die ihres Bruders packte und sie beide auf die Füße hochzog. Eilig nahm er das filigrane Kreuz von seinem Hals und hängte es dem Bruder wie einen wunderwirkenden Talisman um. Dann sah er beiden fest in die Augen und bat mit einem einzigen Blick um ihr Vertrauen. Mehr Zeit blieb ihm nicht, denn schon stand der Geistliche mit seinen Mordgesellen vor ihm. Wie in einer Gloriole des Satans ging in dessen Rücken das Haus des Rabbiners nun vollständig in Flam men auf. Einer der Mörder, der, dessen Gesicht einer Wolfsschnauze glich, hatte sich die goldene Kette ihres Vaters um den Hals gehängt. Die Beobachtung stimmte sie traurig, denn nun wusste sie mit Bestimmtheit, dass ihr Vater erschlagen worden war. Wie gern hätte sie dem Schinder einen scharfen Dolch in den Leib gerammt! Aber was konnte sie, ein zartgliedriges Mädchen, gegen solch vierschrötige Kerle schon ausrichten? Sie beschloss, sich die Gesichter der Mörder ihrer Mutter und ihres Vaters für jetzt und alle Zeit einzuprägen. Das Gedächtnis sollte ihr zur einzigen Waffe gegen die Hilflosigkeit werden.
»Was glotzt die mich so an?«, brüllte der Wolfsschnäu zige, dem der durchdringende Blick des Mädchens sichtlich unangenehm war.
»Lucifer hat ein neues Kleid bekommen,
das hat sich von selbst gesponnen
aus dem Mist aller kotigen Sünden« , predigte der Dominikaner.
»Was redet das Mönchlein da?«, wandte sich der mit der Wolfsschnauze an den Chorherrn, doch der antwor tete nicht, sondern fixierte den Predigerbruder, der dem Blick des Weltgeistlichen standhielt. Myriam spürte den unversöhnlichen Hass, mit dem sich der Mönch und der Chorherr musterten.
»Der Chorherr August von Virneburg bei christlicher Verrichtung!«, stellte der Mönch verächtlich fest.
»Geh in dein Kloster, Johannes!«, entgegnete Virne burg drohend. Der Weltgeistliche in seinem schwarzen Habit, auf dem dunkelbraune, noch feuchte Flecken glänz ten, zügelte sichtlich seinen Zorn über das Eingreifen des Predigers, während der mit der Wolfsschnauze losbellte: »Wie haben wir’s denn, Mönchlein?! Schleppst du Judenbälger fort? Bist vielleicht selbst ein verkleideter Christusmörder.«
»Dich soll der Teufel stäupen für all die Gülle, die aus deinem Mund kommt! Es sind christliche Kinder!«
»Christliche Kinder? Ich habe sie selbst in der Judenhütte dort gesehen. Was haben denn christliche Kinder beim Juden zu suchen?«
»Die Juden hatten sie verschleppt! Wage es nicht, sie anzurühren!« Instinktiv hielt Myriam ihrem kleinen Bruder den Mund zu, bevor er protestieren konnte, denn sie spürte, dass Johannes versuchte, ihr Leben zu retten. Von fern drang jetzt auf Hebräisch das Kaddisch an ihr Ohr, gesungen von einer hohen Stimme in nie gehörter Reinheit, die sich mit dem Rauch in den Himmel zu Gott erhob:
»Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt,
die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde –
sein Reich erstehe in eurem Leben in euren Tagen
und im Leben des ganzen Hauses Israel,
schnell und in nächster Zeit, sprecht: Amen!
Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit
und Ewigkeit der Ewigkeiten …«
Tränen traten ihr in die Augen, denn es war ihr, als führte der Gesang die Seelen ihrer Eltern mit sich. Und das bedeutete, dass sie nun durch ein Leben getrennt voneinander waren. Doch für wie lange, vermochte niemand zu sagen. Niemand, außer der Allerhöchste, gelobt sei sein Name.
Der mit der Wolfsschnauze ließ indes nicht nach:
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