Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Äußerlichkeiten ablegen, Stück für Stück. Sich auf den beschwerlichen Weg zu ihm zu machen, bedeutet, die Prägungen der profanen Welt zu überwinden, denn es sind die Prägungen des Teufels. Vom Profanum zum Fanum!«
Myriam zweifelte, ob sie dem Christen, wenn er auch der Freund ihres Vaters war, glauben durfte, ob sie einfach leugnen durfte, Jüdin zu sein, und damit den Gott verraten, der einen Bund mit ihrem Volk geschlossen hatte. Würde sie den Bund dadurch nicht sogar brechen? Stellte Gott sie auf die Probe wie einst Hiob? Andererseits leuchtete ihr ein, was der Mönch sagte. Ach, wenn sie nur den Vater um Rat bitten könnte! Plötzlich wurden ihr Entscheidungen abverlangt, die zu fällen sie sich für zu jung und für zu unerfahren hielt.
Der ausgesandte Bote führte unterdessen eine Frau in einem grauen Kleid herein und zog sich sogleich wieder zurück. Johannes erklärte ihr in kurzen Sätzen, worum es ging. Die Frau verstand sofort. Sie hockte sich ebenfalls zu den Kindern. Myriam sah die vielen kleinen Falten um Mund und Augen der Frau, die wohl ihre Eltern an Jahren überragte, aber dennoch jung wirkte. Ihr Lächeln besaß einen mädchenhaften Charme, weil es aus dem Herzen kam.
»Du kommst mit zu uns Beginen.«
»Beginen?«, fragte Myriam erstaunt.
»Ja, wir leben ganz auf uns allein gestellt in einem großen Haus. Dienen Gott und verdienen unser Geld mit Putzarbeiten, Nähen und Krankenpflege.«
»Und was sagen eure Männer dazu?«
»Wir haben keine Männer. Deswegen leben wir ja zu sammen, weil wir weder ins Kloster gehen noch verheiratet werden wollten! Wir sind eine Gemeinschaft frommer Frauen, die Christus nachstreben.«
Myriams runde Augen wurden vor Staunen noch größer. Frauen, die ganz allein und nur auf sich gestellt lebten.
Mechthild strich dem Mädchen übers Haar und schaute sie mitleidig an. »Ach, ihr beiden. Wir können euch nur schützen, wenn wir euch trennen.«
Myriam umklammerte ihren Bruder und schüttelte heftig das Haupt. Nie und nimmer würde sie von ihrem Bruder scheiden, er war doch das Einzige, was sie auf der Welt noch besaß.
»Wenn etwas Gras über die Geschichte gewachsen ist, dürft ihr euch natürlich heimlich besuchen«, versuchte Johannes, sie zu trösten. »Willst du, dass dein Bruder lebt, dass es ihm gut ergeht, er weder an geistiger noch an körperlicher oder seelischer Nahrung jemals Mangel leiden soll? Oder ziehst du es vor, dass er dem Chorherrn in die gotteslästerlichen Pfoten fällt?« Myriam vermochte dem klaren Blick der Begine nicht standzuhalten.
Johannes schloss die beiden Kinder fest in seine Arme. »Verabschiedet euch nun voneinander! Myriam kommt zu den Beginen, während David bei mir bleibt. Du heißt ab heute Maria und bist die Tochter von Seilern, die an der Pest starben, und du bist Christian Rosenkreuz, Sohn eines Ministerialen, der ebenfalls mit der ganzen Familie an der Seuche zugrunde ging. Kinder, ich kann euch nicht anders retten. Schnell, schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sprach er auf sie ein.
»Nein!«, schrie jetzt der siebenjährige Junge.
Myriam küsste ihn auf die Stirn. »Ach David, es muss sein. Du willst doch reisen wie die Engel und den Taten und die Mame wiedersehen?« Woher die Kraft kam, die Myriam diese Worte ruhig und klar sprechen ließ, wusste sie selbst nicht und würde es auch niemals erfahren, sooft sie sich später auch an diese Begebenheit erinnern sollte. Mechthild nahm Myriams Hand in die ihre und zog sie mit sanftem Druck mit sich fort. Willenlos ließ das Mädchen es geschehen.
»Warte, warte!«, rief der Junge aufgeregt. Sie wandte sich um, da stand der kleine Mann vor ihr und wirkte ganz ernst. Er nahm das Kreuz von seinem Hals und brach es entzwei. Die obere Hälfte reichte er ihr. »Eines Tages kommen wir wieder zusammen! Dann wird auch das Kreuz wieder heil werden.«
Johannes schaute erstaunt auf den Sohn des Rabbiners, und auch in Mechthilds Augen war Bewunderung zu lesen.
»Bald schon, Bruderherz, bald schon. Versprich mir eins!« Wortlos hob der Junge die Schwurfinger. Sein Gesicht drückte Bereitschaft aus. »Folge in allem Bruder Johannes, er ist unser Freund. Sage immer, dass du Christian Rosenkreuz heißt, und verrate niemandem, wer wir in Wahrheit sind. Sprich nicht hebräisch, singe keine jüdischen Lieder, habe zu niemanden sonst Vertrauen!« Myriam ließ ihren Teil des Kreuzes in der linken Faust verschwinden. Dann presste sie die Hand ans Herz, lächelte ihrem
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