Das Geheimnis der Salzschwestern
ihr Leben lang auf diese Kunde gewartet und könnte nun endlich alles aus sich herauslassen.
Als ihre Eltern schließlich Henrys Leichnam aus dem Wasser bargen, war er aufgedunsen und kalkweiß – längst eher Meereswesen als Landgetier. Jo sah dabei zu, wie sie ihn auf den Boden legten. Entsetzt betrachtete sie, was Salzwasser mit einem Menschen anrichten konnte, wenn es sich bis auf die Knochen in ihn hineinfraß, was sie Henry angetan hatte, weil sie ihm nicht nachgesprungen war. Ihre Mutter bemerkte ihren Blick, tat aber nichts, um Jo zu trösten, also nahm Jo stattdessen ihre kleine Schwester ganz fest in den Arm. Sie begriff, dass das erste Kapitel ihrer Kindheit gerade unwiderruflich zu Ende gegangen war. Claire wand sich und quengelte, Jo ließ sie aber nicht los, aus Angst, dass auch sie zum Wasser hinüberlaufen würde wie Henry und es dann wieder ihre Schuld wäre.
Drei Tage nach Henrys Tod wurde es sogar noch heißer, die Luft stand so still, als hätte sie böse Absichten, und das Salz türmte sich in den Verdunstungsbecken zu kleinen Häuflein auf. Die Bassins trockneten eins nach dem anderen völlig aus, und als der Wind wieder wehte und die Flocken davonpustete, entdeckten Jo und ihre Mutter, dass sich der Schlamm in der Senke nahe Henrys Grab blutrot gefärbt hatte.
Ihre Familie war daran gewöhnt, dass die Becken ihre Farbe änderten. Am Ende jedes Sommers, wenn die Mineralienkonzentration im Schlick auf dem Grund der Bassins am größten war, gediehen dort Algen in Grün-, Lila- und rötlichen Brauntönen und verwandelten die Marsch in eine bunte Patchworkdecke. Aber so etwas hatten sie noch nie gesehen. »Großer Gott«, murmelte Mama, schob Claire auf ihrer Hüfte zurecht und bekreuzigte sich am Rande des Beckens. »Es geht einfach nie vorbei.«
»Was denn?«, wollte Jo wissen. Das waren ihre ersten Worte seit drei Tagen, und ihre Stimme klang so kratzig wie die Krallen einer Katze auf Holz.
Ihre Mutter legte den Arm um sie und zog sie dicht an sich heran. Seit dem Unfall und ihrer anfänglichen Kühle nutzte Mama nun jede Gelegenheit, um sie zu berühren, was für Jo sowohl ein Trost als auch eine Qual war. Sie wusste, dass sie Henrys Platz niemals einnehmen konnte. »Frag nicht«, sagte Mama.
In der Ferne hörte Jo die Verandatür zuschlagen. Die geduckte Silhouette ihres Vaters trat hinaus. Er hatte entschieden, auf die altmodische Art zu trauern, trug Schwarz, aß kein Fleisch und sprach nur, wenn es unbedingt nötig war. Seine Saufabende bei Fletcher’s hatte er ebenso wie die Musik und das Pokerspiel aufgegeben, nur auf den Gin konnte er nicht verzichten. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die Flasche im kaputten Klavier zu verstecken. Stattdessen stellte er sie offen auf das Instrument, und Jos Mutter ließ es ihm durchgehen.
»Wo geht Papa denn hin?«, fragte Jo, als ihr auffiel, dass er einen Koffer in der Hand hielt. Er lief den sandigen Pfad in Richtung Stadt entlang, und sein Umriss wurde kleiner und kleiner. Jos Mutter strich ihr übers Haar. Auch sie trug Schwarz wie Jo und Claire, ihre Trauer war jedoch weniger offensichtlich. Sie brauchte diese ganzen Förmlichkeiten des Trauerns nicht. Es war vielmehr so, als ob die Strömung, die am Damm zerrte, mit aller Gewalt versuchte, ihre Seele hinaus ins Meer zu reißen, wo sie brodeln und schäumen würde.
»Jetzt bleiben nur noch wir Frauen«, murmelte sie. »Ich weiß auch nicht, warum ich je gedacht habe, es könnte anders sein.« Sie sah dabei zu, wie Jos Vater auf dem Weg verschwand, dann ging sie zu dem roten Becken hinüber und nahm etwas Salz. »Mach den Mund auf«, verlangte sie von Jo und streute ihr eine Prise der bitteren Substanz auf die Zunge. »Und jetzt schluck es runter.«
Jo tat wie geheißen und stellte erstaunt fest, dass dieses Salz trotz seiner Farbe gar nicht anders schmeckte. Offensichtlich ging das Leben weiter wie bisher auch. Aber das war nicht die Lektion, die ihre Mutter ihr hier erteilen wollte. Mama kniete sich hin und sah Jo in die Augen. Sie schob ihr noch ein paar Körnchen in den Mund. »Du musst tiefe Wurzeln schlagen und mit dem Land eins werden«, erklärte sie. »Du bist eine wahre Gilly. Claire und du, ihr müsst jetzt unseren Namen weitertragen. Denk immer daran, Jo. Die müssten dein Innerstes nach außen kehren, um das Salz aus dir herauszubekommen.«
Jo leckte sich die salzigen Lippen und schloss die Faust um einen glatten Kieselstein, den sie seit Henrys Tod ständig mit
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