Das Geheimnis der Salzschwestern
Füßen, die Linie der vorbeiziehenden Pelikane am Horizont, die ihre Formation so präzise einhielten wie eine Bomberstaffel. Es kam Jo so vor, als würde die Welt hier ganz allein für sie eine Vorstellung geben.
Als es immer heißer wurde, machte sich Jos Mutter beständig Sorgen um den Wasserstand und schickte Jo zwei-, dreimal am Tag hinaus in die Marsch. Doch das reichte noch immer nicht aus. Das Salz bildete sich nun derart schnell, dass sie gar nicht mehr hinterherkamen. An einem Tag, an dem es so brüllend heiß war, dass Jo das Gefühl hatte, man könne ein Spiegelei auf ihrer Stirn braten, fuhr sich Jos Mutter schließlich mit der Hand durchs Haar und beschloss, sich den Konventionen zu widersetzen.
»Geh zur Veranda und hol deinen Bruder, bevor du den Wasserstand überprüfst«, sagte sie. »Dann könnt ihr die Schleusen zu zweit öffnen, und es geht doppelt so schnell. Erledige das und hilf mir dann, das Salz in Säcke zu füllen.« Das passte Jo gar nicht. Sie war sich sicher, dass Henry ihr überhaupt keine Hilfe sein würde. Nur sie wusste, wie sie die Seile lösen und die Tore an den Schleusen öffnen musste, nur sie erkannte, wann genug Wasser in die Becken gelaufen war.
»Bist du dir sicher?«, fragte Jo und biss sich angesichts ihrer Aufmüpfigkeit auf die Lippe. »Kann mir Daddy nicht lieber helfen?«
Ihre Mutter blickte mit resignierter Miene zum Haus hinüber, wo Jos einjährige Schwester Claire schlief und ihr Vater auf der Wiese davor an einem alten Auto herumschraubte, eine Tätigkeit, die er gelegentlich für einen tiefen Schluck aus der Flasche zu seinen Füßen unterbrach. »Wohl eher nicht«, seufzte Mama mit aufeinandergepressten Lippen. »Lasst mehr Wasser in das erste Becken, aber haltet euch vom Wehr fern.«
Jo tat wie geheißen, holte ihren Bruder und führte ihn durch die Marsch. Henry folgte ihr über die Dämme und trat nach dem getrockneten Schlamm, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Dass man ihn von seinem Buch weggeholt hatte, passte ihm gar nicht. Er sah dabei zu, wie sich Jo an der Hauptrinne in den Matsch kniete. Sie löste den Knoten und versuchte, den Flaschenzug irgendwie in Bewegung zu setzen, das Zahnrad klemmte jedoch, weil etwas mit dem Mechanismus nicht stimmte.
»Hilf mir doch«, bat sie, »sieh nach, was da in den Rädern steckt.« Ihre Hände waren vom Schweiß und Meerwasser ganz glitschig, deshalb bekam sie den Griff der Schleuse nicht richtig zu fassen. Auf beiden Seiten der Trennwand wogte und drängte das Wasser wie Insassen bei einer Gefängnisrevolte.
Jo sah hoch, ihr Bruder war jedoch verschwunden. Er war den Kanal weiter entlanggelaufen und hielt auf den Damm zu, der die Marsch von der rauen See abtrennte. Ihre Mutter hatte ihnen immer und immer wieder eingebläut, nicht dorthin zu gehen. Denn auch wenn das Wasser dort an der Oberfläche ruhig aussah, war es in der Tiefe so hinterhältig wie ein Lindwurm und konnte kleine Kinder hinabzerren, ohne dass die geringste Spur von ihnen zurückblieb.
»Henry!«, rief Jo, aber er hörte nicht auf sie. »Geh da nicht rein!«, kreischte sie, was aber genau den gegenteiligen Effekt hatte. Es war heiß, und ihr Bruder wollte sich eben abkühlen. Sie sah, wie er sich vornüberbeugte, sein Haarschopf sich der Oberfläche näherte, und er dann plötzlich, so wie ihre Mutter es immer prophezeit hatte, ins Wasser gerissen wurde. Von der Stelle aus, an der sie stand, konnte sie gar nicht so genau erkennen, was eigentlich passiert war. Sie schoss zu ihm hinüber und wollte sich selbst in die Fluten stürzen, als Angst und völlige Panik sie mit einem Mal lähmten. Sie stand da wie ein Kaninchen im Flutlicht. »Henry!«, brüllte sie immer wieder, aber ohne Ergebnis. Sie zwang sich, ins schaumige Nass hinabzusteigen, um ihren Bruder zu retten, doch ihre Angst, wie er unter Wasser gezogen zu werden, war größer. Wer würde sie dann herausholen? Sie wartete zehn Atemzüge lang, doch Henry kam nicht wieder an die Oberfläche zurück. Der Lindwurm hatte ihn mit Haut und Haaren verschluckt. Atemlos stand Jo da, bis sie mit einem Mal wieder zu sich kam und losrannte, um Mama zu holen.
Das Gesicht ihrer Mutter angesichts dieser furchtbaren Nachricht, als Jo allein in die Küche gerannt kam, würde sie niemals vergessen. Eigentlich hatte sie mit Entsetzen gerechnet, mit Wut vielleicht, aber als Jo die Worte hervorwürgte, schlug ihre Mutter nur die Hände vors Gesicht und atmete geräuschvoll aus, als hätte sie
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