Das Geheimnis der Salzschwestern
dritten Gang. Sie konnte sich genau vorstellen, wie man dort reagieren würde, wenn sie mit ihrer von Narben übersäten rechten Gesichtshälfte, dem dicken Glasauge sowie den von der täglichen Arbeit in den Salinen ganz steifen und verblassten Kleidern zur Tür hereinspaziert käme. Andererseits war das vielleicht gar keine schlechte Idee. Womöglich stimmte ihr Anblick die Banker milde.
Erstaunt sah Jo auf, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie schon in der Stadt angekommen war. Geteiltes Leid ist halbes Leid, Jo stellte da keine Ausnahme dar. Die Salt Creek Farm hatte zwar in den letzten zehn Jahren schwere Zeiten durchgemacht, doch es erfüllte Jo mit Genugtuung zu sehen, dass es dem Rest von Prospect ähnlich ging. Inzwischen war die Bücherei nur noch dreimal in der Woche geöffnet und die Post nur noch vormittags. Mr Friends Eisenwarenhandlung, ein staubiges Durcheinander von veralteten Werkzeugen, harrte direkt neben dem Ramschladen noch immer an der Ecke Bank Street/Elm Street aus, aber der Friseur sowie der Imbiss hatten mittlerweile dichtgemacht. Dessen früherer Besitzer, Mr Hopper, war vor drei Jahren an einem Schlaganfall gestorben und hatte somit die Stühle des Lokals leer und die Männer der Stadt hungrig zurückgelassen. Natürlich schob Prospect die Schuld auf das Salz, aber davon wollte Jo nichts hören. Sie wusste ganz genau, wer hinter dem Niedergang des Ortes steckte: ihre kleine Schwester Claire. Sie war doch diejenige, die vor zehn Jahren von der Salt Creek Farm geflüchtet war – sie hatte sich der natürlichen Ordnung der Dinge widersetzt und Jo einer Arbeitskraft beraubt. Als Heranwachsende hatte Jo das Salzgut zusammen mit ihrer Mutter und Claire bewirtschaftet, und obgleich sie damit kein Vermögen verdient hatten, waren sie immer über die Runden gekommen. Aber nach Claires Heirat und dem Tod ihrer Mutter hatte Jo feststellen müssen, wie schwer es für eine einzige Frau war, die Arbeit von dreien zu erledigen. Tatsächlich war es, wie ihre magere Salzausbeute bewies, sogar unmöglich.
Und in letzter Zeit schien sich alles, was Jo auf dem Gut in Angriff nahm, negativ auszuwirken. Wenn sie zum Beispiel beschloss, die zarte Kristallschicht in den Becken abzuschaben, dann hieß das, dass sie keine Zeit hatte, die kaputte Schleuse am Wehr zu reparieren. Und wenn sie sich endlich darum kümmerte, dann konnte sie in dieser Zeit nicht die Rinnen säubern, die langsam verschlammten. Dieses Jahr hatte sie ein Drittel der Verdunstungsbecken verschlicken lassen, wodurch diese nicht mehr zur Produktion taugten und brachlagen. Außerdem war Jo gezwungen, das Loch im Dach zu ignorieren, über die verzogenen Holztore in den kleineren Schleusen hinwegzusehen und sich eben irgendwie zu behelfen, wenn ihr Werkzeug aus Metall langsam verrostete. Natürlich litt die Produktivität unter all dem. Sie brauchte neue Geräte, musste den Truck reparieren und die Veranda des Wohnhauses ausbessern, und jetzt hatte sie auch noch Schulden abzubezahlen. Schulden, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatte.
Darüber hinaus steckte die Marsch noch in ganz anderen Schwierigkeiten, von denen die Bank in Boston allerdings nichts wusste. In Wahrheit war es gar nicht schlimm, dass Jo so wenig produzierte, weil sie in Prospect sowieso kaum Ware verkaufte. Auch daran war ihre Schwester schuld. Claire hatte beinahe alle Kunden vergrault, bis auf die einheimischen Fischer, die das Salz gerne benutzten, um Fang und Köder zu kühlen. Jo hatte die böse Ahnung, dass sie ohne die Geschäfte mit Männern wie Chet Stone, dem Onkel von Claires erster Liebe, jetzt genauso tot im Wasser treiben würde wie die Fische in seinem Tank. Jo wusste, dass Claire die Dinge, die sie nicht ausstehen konnte, auch unbedingt allen anderen verleiden wollte. Dann führte sie sich auf wie ein launisches Kind, das sein Spielzeug lieber wegwarf, als es anderen zu überlassen, ohne Rücksicht auf mögliche Folgen.
Jo musste daran denken, wie Mr Upton, der Lebensmittelhändler, in seinem ersten Sommer in der Stadt nichts von ihrem Salz hatte wissen wollen. Sie war zu jenem Zeitpunkt sehr jung gewesen, hatte ihrer Mutter gerade mal bis zum Knie gereicht, als sie in seinem Laden vorbeischauten, um ihm eine Kostprobe zu bringen. »Nein danke«, lehnte er damals mit einer Handbewegung ab. Ihre Mutter verlegte sich nicht etwa aufs Diskutieren. Sie lächelte nur zuckersüß. »Gut«, sagte sie. »Das ist schon in Ordnung.« Und dann marschierte sie
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