Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
doch ein rettender Engel – wenn auch ganz wider Willen! Sei’s drum. Der Herr hatte sie auf den rechten Weg zurückgeführt.
Immer noch lächelnd betrachtete sie den steinernen Michael. Er schien ihr Lächeln zu erwidern. Hell strahlten die Augen des Cherubs, weit heller als die Augen des Toten in der Grube. Sie waren unvergleichlich. Und nicht eisblau, sondern lockend warm, bernsteinfarben, beinahe golden. Lunetta trat näher an die Figur heran – und erschrak. Was sie nun sah, war ein schweflig leuchtendes Gelb. Verfluchte Visionen! Rasch betrat sie die Kapelle, um nach Goswin zu sehen.
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D ER T EUFEL HÄTTE KAUM M ACHT AUF E RDEN, WENN DAS B ÖSE NIEMALS IM N AMEN DES G UTEN UND G ERECHTEN
GETAN WERDEN KÖNNTE.
Mariflores Zimenes, »Die Geheimnisse des Tarots«
1.
L ONDON , 10. J ANUAR 1536
Die Nacht war Musik, wie so oft im Palast zu Greenwich. Das zwölftägige Weihnachtsfest mit seinen Banketten, Empfängen und endlosen Maskenspielen war erst fünf Tage vorüber, und schon wurde in den Gemächern von Königin Anne wieder die Laute geschlagen, tönten schrille Flöten und Krummhörner, wirbelten Schlegel über hart gespannte Trommeln.
Graf Adrian von Löwenstein stand an einem offenen Fenster im Höflingstrakt. Er schaute zu der Saalflucht im gegenüberliegenden Gebäude hinüber, die im Licht Hunderter Kerzen und Kienspäne erstrahlte. Schemenhaft bewegten sich Tänzer hinter hohen Bogenfenstern. Ein Todesfall war Anlass für die ausgelassene Tanzerei.
»Sind das etwa Kastagnetten?«, fragte der Graf entsetzt, als ein Rasseln drohend wie das Zischen einer Schlange über den schneeglänzenden Hof drang.
Der Mann neben ihm nickte. » Sì. Und ohne Zweifel tragen alle Tänzer gelbe Gewänder, butterfarbenen Bombasin oder Zitronenseide, um unsere große Katharina von Aragón vollends zu verhöhnen.« Es war Don Eustace Chapuys, Spaniens Botschafter in England; ein drahtiger Mann mit Fuchsgesicht, das ein sauber getrimmter Spitzbart zu einem Dreieck vollendete. Sein Mienenspiel war unablässig in Bewegung, verriet einen flinken Geist und verwirrte jeden Gegner.
»Gelb? Spaniens Farbe der Trauer?« Der Ritter von Löwenstein verzog angewidert den Mund. Welch eine spottgetränkte Verneigung vor der am achten Januar verstorbenen Katharina. Anne Boleyns Damen und Höflinge vollführten groteske Sprünge und Volten. »Sie erinnern an trunkene Meerkatzen«, murmelte der Graf.
»Wahrscheinlich fühlen sie sich auch so«, bemerkte Chapuys trocken. »Die Königin mischt den Wein ihrer Gäste neuerdings mit dem irischen Wasser des Lebens. In gälischer Zunge heißt es uisegebeatha. Eine Tinktur der Ekstase, die jeden in einen lallenden Narren verwandelt. Gelegentlich stellt sie Räucherpfannen mit Opium auf. Es geht das Gerücht, dass sie ihre neuerliche Schwangerschaft dieser künstlichen Benebelung ihres Gatten verdankt.«
Der Ritter von Löwenstein schloss mit lautem Knall das Fenster. Chapuys hob in spielerischer Drohung den Zeigefinger. »Nicht so laut, mi amigo , und schaut nicht so sturdeutsch. Ihr seid doch ein halber Spanier, nutzt Euren Verstand so geschmeidig wie Euren Degen.«
»Ich bin nicht hier, um mir diesen widerwärtigen Hofklatsch anzuhören.«
Chapuys hob in gespieltem Entsetzen die fein geschwungenen Brauen. »Ihr haltet das für Klatsch? Ich nenne es verlässliche Informationen. Anne musste Heinrich für diesen Zeugungsakt berauschen, denn er tändelt längst mit anderen, und seine Säfte fließen nicht mehr so prompt wie die Tinte, mit der er Staatspapiere zeichnet.«
»Woher wollt Ihr das wieder wissen?«
»Heinrichs Puddingköchin, eine teure, aber gute Informantin, verriet mir, dass Anne oft eine Brühe aus Stierhoden und Stachelschweinborsten für den König zubereiten lässt. Glaubt mir, diese Großhure von Königin hätte noch ganz andere Dinge getan, um schwanger zu werden. Es ist ihre einzige Lebensversicherung. Bislang hat sie nur eine Tochter hervorgebracht. Genau wie die selige Katharina.« Er bekreuzigte sich rasch. »Mit der ich sie natürlich nie vergleichen würde.«
»Dieser Hof gleicht einem Komposthaufen, in dem sich alles zu einem Werk der Zersetzung versammelt, immer erhitzt und immer von üblen Dünsten umgeben«, zürnte der Graf mit Blick auf den Festsaal.
»So wie jeder Hof in Europa.« Chapuys wandte sich ab und ging zu einem Schreibtisch, um einen eben eingetroffenen Brief zu öffnen.
Löwenstein legte grimmig die Rechte
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