Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Anlauf zum kraftvollen Sprung, die Hinterbeine streckten sich, es zog die Vorderbeine an, flog über das Hindernis. Lunetta fühlte im Schlaf, wie alle Schwere von ihr abfiel.
Das Geräusch hart aufprallender Hufe, die sich in jähem Ritt entfernten, zerriss das schöne Bild. Sie glitt nahtlos zurück in das traumlose Dunkel ihres Betäubungsschlafes. Der Morgen war noch fern.
Nur wenige Türen weiter lagen Sidonia und Gabriel beieinander. Zimenes schlief, seine Frau war wach. Das Geräusch klappernder Hufe hatte sie hochschrecken lassen. Sie war zum Fenster geschlichen und hatte in den unbelebten Hof hinabgesehen. Die Papierrosen der Gaukler ertranken in eisigen Pfützen, die Schaubühne stand verlassen da. Sie hatte keinen Reiter entdeckt, vielleicht hatte sie nur geträumt. Rasch war sie wieder unter die wärmenden Decken geschlüpft.
Zärtlich betrachtete sie nun ihren Mann im Licht des untergehenden Mondes, legte ihm die Hand sanft auf den Nacken, spürte die Anspannung seiner Muskeln und strich sanft seine Haut.
Aller Aufregung zum Trotz war sie glücklich. Furcht ist nicht in der Liebe, denn die völlige Liebe treibt die Furcht aus. Nie hatte sie diesen biblischen Satz so vollkommen verstanden wie jetzt. Sie setzte sich im Bett auf und betrachtete den Mond vor dem Fenster. Sein abnehmendes Licht verriet, dass die Schwelle nahte, an der Finsternis und Licht einander begegneten und auf kurze Frist den Himmel gemeinsam regierten.
Leise schlug sie die Decke zurück und schlich über die kalten Dielen zum Kamin. Sie entfernte die schützenden Moossoden von der schlummernden Glut und entfachte das Feuer neu.
Lächelnd griff sie nach den Apfelscheiten neben dem Kamin, freute sich auf den süßen Duft, den sie bald verbreiten würden. So wie an jenem Morgen nach Lunettas Ankunft, als ein Streit sie an Gabriels Liebe hatte zweifeln lassen und ihn an der ihren. Vorbei. Bald würde das Frühjahr einsetzen, alles Leben neu beginnen. Kurz legte sie die Hand auf ihren Unterleib, murmelte lächelnd die ersten Zeilen des Angelusgebetes, von dem Tringin behauptete, es fördere die Fruchtbarkeit. Es war der Stolz aller Mägde, dass auch die Himmelskönigin eine einfache Frau gewesen war.
»Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist. Ave Maria!«
Dann schichtete sie geschickt Zunder und Scheite zu einem lockeren Turm. Flämmchen züngelten hoch, leckten am Holz, jagten knisternde Funken in die Höhe.
»Du bist wach?«
Sidonia wandte den Kopf zum Bett. Zimenes drehte sich seufzend auf den Rücken. »Was für eine Nacht!«
»Sie ist bald vorbei«, sagte seine Frau, »und wir sollten den Schlaf des Hauses nutzen.«
Sie schlüpfte zu ihm zurück ins Bett. Ihre Körper fanden sich, sie liebten einander stumm und ohne Hast, lösten sich voneinander und hielten sich zugleich mit den Blicken fest.
Gabriel strich Sidonia eine Strähne aus dem Gesicht. Der Anblick ihres rotgoldenen Haares riss ihn zurück in den gestrigen Abend. Lamberts Gesicht tauchte vor ihm auf.
»Dein Bruder Feuerkopf wird uns einiges erklären müssen! Dieser dreiste Kuss …«
»Er bereut ihn längst und wird sich entschuldigen«, beschwichtigte ihn seine Frau.
»Und wer war sein schmutziger Verfolger? Warum wollte er Lambert ermorden?«
»Ssscht«, machte Sidonia und legte den Zeigefinger auf seinen Mund. »Später.«
»Der Pfeil hätte Lunetta töten können«, murmelte Gabriel.
»Lambert auch«, gab Sidonia ruhig zurück. »Glaub mir, er ist nicht weniger betroffen über das, was geschah, als wir! Hättest du nur gestern Nacht seine Verzweiflung gesehen. Man wird diesen verdammten Mann fassen. Die Gasse war voller Menschen, die ihn gesehen haben. Er würde nie einen weiteren Angriff auf unser Haus wagen.«
»Ich werde ihn jagen, da kannst du sicher sein«, gab Gabriel wütend zurück.
»Überlass das dem Gewaltrichter.«
Gabriel schnaubte verächtlich. »Was soll der ausrichten? Köln hat vierzigtausend Menschen und er nur acht Büttel, die genug damit zu tun haben, die Kleiderordnung zu überwachen, die Ratsverordnungen gegen herumlaufende Schweine anzuwenden und Münzschaber aufzuspüren, die Goldmünzen befeilen oder falsche Bleigewichte gießen.«
Sidonia zuckte die Achseln. »Vielleicht hat der Mann die Stadt längst verlassen. Was mir mehr Kummer macht, ist das Geschwätz, das bald anheben wird. Vom Wunder im Hause van Berck oder der Zauberin im roten Kleid, an der ein Pfeil abprallte …
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