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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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erkannte Leo, für den er als Fünfzehnjähriger mit Sicherheit keine Karten bekommen hätte. Daher also die schrecklichen Geräusche.
    Köpfe zerplatzten, Blut spritzte, fast im Sekundentakt flimmerten neue Brutalitäten über die Leinwand. Das Publikum johlte vor Vergnügen. Auch eine Art, die Einbildungskraft zu vergiften, dachte Leo in Erinnerung an ein Gespräch mit Orla. Oder schlimmer noch: die eigene Fantasie in eine dunkle Richtung zu treiben. Er war vermutlich der Einzige, der in diesem Kino schlief.
    An einer Wand zur Linken entdeckte er eine Tür. Auf einem grün leuchtenden Kästchen darüber stand das Wort »Notausgang«.
    Während auf der Leinwand gerade schleimtriefende Aliens
die Besatzung einer Raumstation mit Explosivgeschossen in Stücke zerlegten, drückte er den Verriegelungshebel herunter und öffnete die Tür. Ihrem vernehmlichen Rumpeln und Quietschen nach zu urteilen, war sie lange nicht mehr benutzt worden. Leo rechnete jeden Moment mit dem Auftauchen eines Kinomitarbeiters. Seine Sorge war jedoch unbegründet. Das galaktische Gemetzel übertönte alles.
    Anders als erwartet, gelangte er in einen Hausflur. Schnell schloss er hinter sich die Tür, damit die Hausbewohner nicht den Lärm der Außerirdischen hörten. Dann erst sah er sich um.
    An der Decke brannte eine Lampe, deren trüber Milchglasschirm sich für Dutzende von Motten als tödliche Falle entpuppt hatte. Es ließ sich schwer feststellen, ob das fleckige Grün an den Wänden Schimmel oder der Anstrich eines längst verstorbenen Malers war. Dem Aussehen nach hätte das Treppenhaus schon vor hundert Jahren dringend renoviert werden müssen. Einige Meter rechts von ihm befand sich eine zweiflüglige Tür, die wohl zum Besucherraum des Kinos gehörte. Am Ende des Flurs leuchtete ein weiteres Notausgangschild. Dort ging es also hinaus.
    Leos Blick wanderte nach oben. Eine Holztreppe führte zu den oberen Stockwerken hinauf. Hatte der König von Illúsion seinen höchsten Statthalter über einem Kino einquartiert? Das erschien absurd. Andererseits wären die Finsterlinge dadurch immer in der Nähe des wohl wichtigsten Drusentores. Leo verließ sich auf sein Gefühl. Irgendwo da oben war die Präsenz, die er spürte. Bestimmt keine hundert Schritte entfernt. Er machte sich an die Ersteigung der Treppe.
    Schon die erste Stufe knarzte so bedrohlich, dass er am liebsten sofort die Flucht ergriffen hätte. Er lauschte. Im Stiegenhaus blieb es still, abgesehen von den Schusswechseln und Todesschreien,
die dumpf aus dem Kinosaal dröhnten. Leo entsann sich der Vorteile einer Luzide, die ihm eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit verlieh. Er stellte sich vor eine Wolke zu sein und schon schwebte er senkrecht nach oben.
    Während er durch die Decken in den einzelnen Geschossen drang, kontrollierte er die Wohnungstüren. In den ersten drei Stockwerken gab es solche nur auf der rechten Seite, weil die linke an den Kinosaal grenzte. Im Gegensatz zum übrigen Treppenhaus waren die schwarz lackierten Türen tipptopp in Schuss. Sie hatten weder Klingeln noch Namensschilder.
    Als Leo gerade zur vierten Etage aufsteigen wollte, wachte er überraschend auf. Um dies festzustellen, brauchte er nicht durch die zugehaltene Nase zu blasen. Er stürzte aus knapp zwei Metern Höhe auf den Boden und die mit der Landung einhergehenden Schmerzen in den Fußgelenken reichten ihm als Beweis. Zum Glück hatte die Luzide ihn verlassen, bevor er in die Decke eingetaucht war.
    Der Aufprall hatte die letzten Traumkrümel aus ihm herausgeschüttelt. Mit Sicherheit war das Poltern jemandem aufgefallen. Er lauschte. Aus der Ferne vernahm er dramatische Musik. War das schon der Abspann des Metzelfilms? Ob diesmal das Böse gesiegt hatte?
    Ächzend zog er sich am Treppengeländer hoch, um schleunigst das Weite zu suchen. Und zögerte. Gerade hatte er zum ersten Mal bewusst die Treppe wahrgenommen, die nach oben führte. In den unteren drei Etagen war das Stiegenhaus so unscheinbar gewesen, wie Leo es von den Altbauten aus Hamburg kannte: ausgeblichenes Linoleum auf den Stufen, blätternde Farbe an den Wänden, abgegriffene Handläufe. Hier dagegen lag ein roter Sisalläufer, gehalten von glänzenden Messingstangen. Der schwarze Lack auf dem Treppengeländer war so makellos
wie bei einem fabrikneuen Konzertflügel. Und die Wandfarbe erweckte auch nicht den Eindruck lebendig zu sein. Niemand betrieb einen solchen Aufwand ohne Grund.
    Wohin führt die Treppe?
    Leo beschloss, der

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