Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Boden der Quellhalle, umgeben von drei niedergestreckten Wächtern; einem fehlte der Kopf.
Leo stieß einen erstickten Schrei aus. Vor seinem inneren Auge erschien das Bild von Refi Zul und seinen Schergen im Kristallpalast. Der Junge und das Mädchen sind hier, ich kann sie riechen. Hatte der König ihnen das gesagt? Legt einen Hinterhalt. Sobald ich das Tor durchschritten habe, bringt ihr sie um.
Orlas Drängen war also mehr als begründet gewesen. Womöglich hatte sie sogar mit dem Angriff gerechnet und ihren Freund schützen wollen. Leo meinte, sein Herz müsse zerspringen, als er sich vorstellte, wie verbissen sie ganz allein gegen die Wächter gekämpft hatte. Und von ihnen niedergestreckt wurde.
War sie tot? Vielleicht konnte er sie noch retten. Und wenn das Traumtor sich bereits schloss und ihn ins Reich der ungeträumten Albträume schleuderte? Egal. Er durfte seine Freundin nicht im Stich lassen. Entschlossen näherte er sich dem Traumtor. Lieber Inférnia als das Fegefeuer ewiger Schuld.
Gerade wollte er in den Wasserfall treten, als plötzlich das Haus des Rates erzitterte. Gelähmt vor Schreck blieb er stehen und starrte auf die reißenden Halterungen. Die Deckenfacetten
vervielfachten das schreckliche Bild durch die Luft peitschender Taue.
Es folgte eine gewaltige Erschütterung. Ein Hagel von Splittern prasselte herab. Für die Dauer eines Wimpernschlags sah er in einem Prisma unweit von Orlas Körper ein menschliches Antlitz …
Dann schloss sich das Tor.
Der Sturzbach verebbte.
Das grauenvolle Bild verschwand.
Starr vor Schreck blickte Leo auf die Stelle, wo eben noch das Traumtor gewesen war. Er sah nur die Reflexionen der elektrischen Beleuchtung in den Drusenkristallen. Merkwürdig klar. Schluchzend kniff er die Augen zu. Es war das grauenhafteste Erwachen seines Lebens.
Du hast tatenlos zugesehen, wie Orla stirbt! Der Gedanke erschien ihm unerträglich. Die Seelenpein schmerzte mehr als jede körperliche Qual. Leo krümmte sich vor Trauer, Verzweiflung und Zorn. Kraftlos sank er auf die Knie. Tränen rannen ihm über die Wangen. Warum nur hatte er Orla misstraut? Er hätte bei ihr bleiben müssen. Jetzt war sie tot.
In sich zusammengesunken ließ er sich von seinen Gefühlen treiben. Er verlor jegliches Gespür für die Zeit. Mit grausamer Beharrlichkeit spulte sein Gedächtnis die Szene aus dem Drusentor wie auf einer inneren Leinwand immer wieder ab. Jedes Mal meinte Leo das Gesicht im Prisma genauer zu erkennen. Allmählich wurde ihm bewusst, dass es keine Spiegelung von Orla gewesen war. Er hatte einen hellen Lockenkopf gesehen. Einen Jungen. Da war noch jemand anderer im Kristallpalast.
Und dieser Jemand hatte wie Mark Schröder ausgesehen.
Leo riss vor Schreck die Augen auf, sah aber nichts. War er
blind geworden? Er hatte einmal gelesen, dass extreme seelische Belastung zu körperlichen Beeinträchtigungen unterschiedlichster Art führen konnte.
Plötzlich hörte er ein Geräusch, ein rhythmisches Klicken wie von Klauen auf nacktem Fels. Angestrengt starrte er in die Finsternis. Ein flackerndes Licht erschien im Tunnel. Da trug jemand eine Fackel durch einen Nebengang.
Leo langte in die Hosentasche und zog die Pillendose hervor. Als er den Deckel öffnete, meinte er im Kopf Orlas Stimme zu hören. Verschwende sie nicht… Im Schlaf bist du mächtiger, als es Zul lieb sein dürfte. »Sie werden für den Mord an dir bezahlen«, flüsterte er und schluckte eine Pastille. Nur eine einzige. Danach verstaute er den Behälter wieder in der Tasche und tastete sich aus der Drusenkammer heraus.
Der Gang bog vor dem Raum nach rechts ab. Das klickende Geräusch wurde lauter. Hyänenschweine! Sicher hatte Refi Zul bemerkt, dass die letzte große Traumquelle versiegt war und sofort seine blutrünstigen Wächter losgeschickt.
Leo wich der Konfrontation mit ihnen aus. Er wollte zunächst warten, bis die Schlafpastille wirkte. Diesen Kampf konnte er nur in einem luziden Traum gewinnen.
Da er auf seinen Tastsinn angewiesen war, kam er nur langsam voran. Zweimal wechselte er in einen Nebengang. Er hatte sich kaum dreißig Schritte durch die Dunkelheit gekämpft, als die Bestien hinter ihm aufheulten. Gleich darauf setzten sie sich wieder in Bewegung. Dem Geräusch nach näherten sie sich jetzt schneller als zuvor. Offenbar hatten die Jäger seine Witterung aufgenommen.
Die Flucht vor den Verfolgern endete jäh, als Leo gegen eine Wand stieß. Hektisch tastete er nach links und rechts,
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