Das Geheimnis der versteinerten Traeume
übertraf alles, was Leo sich je hätte vorstellen können. Er war so naiv gewesen und hatte seinen Gegner nach James-Bond-Manier austricksen wollen: Such dir eine Menschenmenge und tauche darin unter. Pustekuchen! Refi Zul hatte die Leute einfach weggefegt und wer weiß wie viele erschlagen. Bestimmt geisterten seine Wächter jetzt durch die leeren Straßen, auf der Jagd nach ihm, dem unliebsamen Traumwandler.
»Ich brauche Hilfe«, murmelte er. »Alleine schaffe ich das nicht.« Er bewegte sich auf eine Treppe zu. Sie führte in die U-Bahn-Station hinab. Da konnte er sich aufwärmen und nachdenken. Du solltest dringend irgendjemanden anrufen, machte er sich klar. Nur wen? Die Eltern? Nein, seine Mutter würde nur einen hysterischen Anfall bekommen. Wenig hilfreich. Jemanden in der Traumakademie vielleicht? Orla war tot, Benno eine Geisel. Wem war dort sonst noch zu trauen? Direktor Dabelstein lebte auch nicht mehr. Wahrscheinlich hatte Okumus ihn umgebracht. Sein Einfluss auf die Kollegen ließ es nicht ratsam erscheinen, sich an einen anderen Lehrer zu wenden.
»Mist!«, zischte Leo. Er kam sich vor wie der einsamste Mensch auf Erden. Ihm fiel nur ein Mann ein, der ihm vertrauenswürdig erschien: Durs Huber. Der Hausmeister hatte sich
ihm gegenüber immer fair verhalten und sogar dem zwielichtigen Ordinarius die Stirn geboten. Möglicherweise wusste der Alte einen Rat. Ich hab kein Handy, war das Nächste, was Leo dachte. »Und kein Geld«, fügte er laut hinzu. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Er hatte bei der Festnahme unter den Augen der Polizisten seine Taschen leeren müssen.
Endlich erreichte er die Treppe. Überall knirschten Hagelkörner, die beim Schmelzen verrutschten. Tauwasser floss gluckernd die Stufen hinab. Leute kamen ihm entgegen, Schaulustige, die sich aus der Deckung wagten. Leo hatte genug gesehen. Vorsichtig, den rechten Handlauf fest im Griff, lief er nach unten. Schließlich kam er aus dem Eis heraus und gelangte in eine Ladenebene. Hier war es wenigstens warm, die Menschen standen dicht gedrängt. Viele redeten aufgeregt miteinander, manche weinten, einige blickten nur starr vor sich hin.
»Entschuldigung«, sprach er die erstbeste Person an, die seinem suchenden Blick nicht auswich, einen jungen Mann in schwarzer Lederjacke.
Dessen Augen verengten sich. »Bist du nicht der Typ, der sich im Kino am Sendlinger Tor in den Untergang der Menschheit geschlichen hat?«
Leo lief ein Schauer über den Rücken. Das war der Kerl, der ihn im Hausflur gestoßen hatte! »Äh … Da müssen Sie mich verwechseln. Ich will nur telefonieren.«
»Verpiss dich, sonst hol ich meinen Häcksler raus und verarbeite dich zu Haschee.«
Er wandte sich ab und lief weiter. Wie war dieser Typ so schnell hierher gekommen? Gehörte er zu Refi Zuls Spähern? Leo schob sich ins dichteste Gewühl, um in der Menschenmenge unterzutauchen.
Kurz darauf fiel sein Blick auf einen Plan des Münchener Nahverkehrsnetzes.
In Fahrtrichtung Süden war der nächste Stopp beider U-Bahn-Linien, die hier hielten, der Bahnhof Sendlinger Tor. Der aggressive Kerl hatte sich vermutlich nur vom Kino aus in die Station begeben, um sich in einem der Bierlokale rund um den Marienplatz die Bilder vom Untergang der Menschheit aus der Birne zu schwemmen.
Vor einer Rolltreppe fiel Leo ein Mädchen mit grün-schwarzen Haaren und Nasenpiercing auf. Es trug eine Armeejacke und war etwas älter als er. »Hallo«, sprach er sie an. »Der Hagel hat mich voll erwischt. Hast du ’n Handy, damit ich mal jemanden anrufen kann, der mich hier abholt?«
Die Jugendliche musterte ihn misstrauisch und kaugummikauend vom Scheitel bis zur Sohle. »Du kommst von oben?« Ihr waren offenbar seine nassen Hosenbeine aufgefallen.
Er nickte.
»Hast du Tote gesehen?«
»Mehrere. Einem fehlte der Kopf.«
Sie riss begeistert die Augen auf. »Ist ja echt abgefahren! Erzähl mal.«
»Ich will nicht darüber reden«, brummte er.
Sie zuckte die Achseln, griff in ihre Jackentasche, zog ein rosafarbenes Aufklapptelefon heraus und reichte es ihm. »Beeil dich. Ich muss gleich weiter.«
»Danke.« Er trat mit dem Handy einen Schritt zur Seite, wandte sich ab und wählte die Nummer der Traumakademie. Es war Abend und die Sekretärinnen waren vermutlich längst zu Hause. Hoffentlich nahm nicht nur der Anrufbeantworter ab. Er hörte ein Klicken.
»Ja?«, meldete sich eine tiefe Stimme.
Leo fiel ein Stein vom Herzen. »Herr Huber? Sind Sie das?«
»Wer spricht denn
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