Das Geheimnis der versteinerten Traeume
dieser Refi Zul?«
»Verzeiht. Ich rede von dem Mann, der Euch verraten und verflucht hat. Ihr kennt ihn wohl unter dem Namen Timaios.«
»Du meinst Matatoa? Den Ersten der Siebzig? Dann muss der Löwengleiche fürwahr ein großer Träumer sein.«
»Das ist er.« Orla zeigte zum Himmel, wo Sonne, Mond und Leo jetzt deutlich zu unterscheiden waren. Erstere gewann zunehmend ihre Kraft zurück. »Er hat einen Schweifstern erschaffen, sodass der Bann von Euch abfallen konnte.«
Tangata trat auf den Jungen zu, legte ihm seine großen Hände auf die Schultern und sagte feierlich: »Dann gebührt dir unser Dank. Du bist trotz deiner Jugend offenbar nicht nur machtvoll, sondern auch weise. Meine Brüder werden meinem Vorschlag bestimmt zustimmen, dich zum Dank an Stelle von Matatoa in den Rat der Siebzig zu berufen.« Er beschrieb mit dem Arm eine Geste, die das weite Rund des Vulkankessels umfasste.
»Eeee!« , erklang es von allen Seiten.
Leo zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte vor lauter Ehrfurcht gegenüber Tangata nicht auf seine Umgebung geachtet. Von der ganzen Südflanke des Kessels strömten bärtige Männer in langen weißen Gewändern herbei. Ihre würdevollen Gesichter waren ausnahmslos ihm zugewandt.
»Ee bedeutet ›ja‹«, übersetzte Orla leise. »Du bist jetzt der Nachfolger von Refi Zul im Rat der Wächter.«
»Gratulation«, sagte Alan.
Leo war perplex. Gerade hatte man ihn noch für einen Kirchenschänder und Mörder gehalten und nun bot man ihm – einem Fünfzehnjährigen! – den Sitz im Ältestenrat von Rapa Nui an. Er schüttelte den Kopf. »Das ist doch bescheuert.«
»Soll ich das übersetzen? Ich glaube, die Uralten sind ziemlich konservativ.«
»Nein. Sag ihnen, dass ich mich geehrt fühle und sehr dankbar
bin. Und dann frag sie, wie man den Fluch von Illúsion abwenden kann. Wir müssen eine globale Katastrophe verhindern und haben’s eilig.«
Orla wandte sich wieder Tangata zu und erklärte ihm und den anderen Wächtern im Telegrammstil die verzweifelte Lage, in die Refi Zul die gesamte Menschheit gebracht hatte. Im Reich der ungeträumten Albträume könne man ihn weder bitten noch dazu zwingen, den Bann aufzuheben. Schließlich stellte sie die entscheidende Frage.
»Kennt Ihr einen Weg, wie sich der Zerfall von Illúsion aufhalten lässt?«
Ein vielstimmiges Stöhnen erhob sich aus der Runde der Wächter. Tangata sah das Mädchen lange an. Dann wechselte sein Blick zu Leo. »Mein Herz fließt über vor Traurigkeit, dir das sagen zu müssen, aber ohne Matatoas Zutun ist sein Bann unumkehrbar. Es hätte nie dazu kommen dürfen, diesen Traum zu verwirklichen.«
Als Leo die Übersetzung dieser Antwort aus Orlas Mund hörte, raubte es ihm den Atem. Ungläubig starrte er sein Gegenüber an. Unumkehrbar? Nie hatte ihm ein Wort einen solchen Schrecken eingejagt. »Heißt das…« Er schluckte, holte tief Luft und setzte ein zweites Mal an. »Bedeutet das, wir können nichts mehr tun? Selbst wenn ich den Kometen auflöse, werden wir alle untergehen?«
Wieder ließ sich Tangata mit seiner Erwiderung viel Zeit. Seine Augen fixierten den Jungen so intensiv, als wolle er die Reinheit seines Herzens abschätzen. Unterdessen raste der Schweifstern weiter auf die Erde zu. Jede Sekunde kam er zwanzig Kilometer näher. Schließlich erklärte der Wächter: »Das Echo der Zukunft ist die Vergangenheit. Was nie geschehen ist, braucht auch nicht umgekehrt zu werden.«
Die geheimnisvolle Antwort des Uralten ließ Leo erschauern. Er entsann sich vage, aus dem Mund des guten Dalmud etwas Ähnliches gehört zu haben. »Wollt Ihr damit sagen, es gibt eine Rettung für uns?«
»Ja«, antwortete Tangata mit trauriger Miene. »Nur du allein kannst diesen Weg gehen. Und ich fürchte, es ist ein Weg ohne Wiederkehr.«
D ie Rückkehr nach Salem war für Leo und Orla komplikationslos verlaufen. Ihr plötzliches Verschwinden vom Gipfel des Puakatike hatte unter den umstehenden Beobachtern für einiges Aufsehen gesorgt. Doktor Alan Levitt war auf der Osterinsel zurückgeblieben. Er hatte versprochen, sich um die neunundsechzig Wächter zu kümmern. Es stand zu befürchten, dass dieses Engagement von kurzer Dauer sein würde.
Nun lag Leo einmal mehr auf der lederbezogenen Polsterliege im Traumlabor. Der falsche Sternenhimmel funkelte an der Decke; leise summte die Klimaanlage. Seine Gedanken konnten sich nicht von den düsteren Worten Tangatas lösen. Ich fürchte, es ist ein Weg ohne Wiederkehr.
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