Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Piste. Unterwegs erzählte Leo dem amerikanischen Forscher die stark verkürzte Form einer für diesen kaum fassbaren Geschichte. Unterdessen wurde es immer dunkler – der Mond schob sich erstaunlich schnell vor die Sonnenscheibe.
»Als Naturwissenschaftler müsste ich euch zwei für komplett verrückt halten«, sagte Alan einige Minuten später. Sie fuhren gerade auf den Parkplatz des Besucherzentrums der alten Kultstätte. »Andererseits kann ich nicht leugnen, dass eure Kleider auf wundersame Weise getrocknet sind und dieser Ringkontinent gerade wie aus dem Nichts aufgetaucht ist.«
»Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?«, fragte Leo.
Alan lachte kurz auf. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Zumindest ist es nicht das Schlechteste, die letzten Stunden meines
Lebens in Gesellschaft so schillernder Typen wie euch und einiger Hundert versteinerter Ratsherren zu verbringen.«
»Neunundsechzig«, stellte Orla klar. Sie schwang sich von der Rückbank aus dem Wagen.
»Na, jedenfalls war ich schon mehrmals privat auf der Osterinsel. Die Moais faszinieren mich. Sie sind voller Rätsel. Stein gewordene Geheimnisse sozusagen. Wusstet ihr beiden, dass ihr eigentlicher Zweck und die genaue Zeit ihrer Entstehung trotz umfangreicher Forschung unter den Experten bis heute umstritten sind?«
Orla schnaubte.
»Nehmen Sie es ihr nicht übel«, sagte Leo und öffnete die Beifahrertür. »Vielleicht werden wir drei ja bald das Rätsel lösen.«
Am Rano Raraku passte alles zu der Geschichte, die Orla ihm erzählt hatte. Der Vulkan lag nicht nur knappe vier Kilometer weiter südwestlich vom Puakatike, sondern auch – je nachdem, von welcher Stelle man maß – etwa dreihundert Meter tiefer. Daher erreichte das Licht den Kraterrand oberhalb der Traumquelle bei Sonnenaufgang einige Minuten früher als den Ruheort der schlafenden Wächter. Refi Zul hatte genug Zeit gehabt, den Bann für die neunundsechzig Uralten zu erneuern.
Der Weg zum Rand des Rano Raraku war mit Gräsern und Felsen gesäumt. Vom Meer wehte ein ungestümer Wind herüber. Schon bald entdeckte Leo die ersten Moais. Von den meisten Figuren ragten nur noch die Köpfe aus dem Erdreich; im wogenden Grasmeer sahen sie aus wie Ertrinkende, die sich mühsam über Wasser hielten. Einige der Felskolosse standen aufrecht, andere lagen auf dem Boden und manche schienen jeden Moment umzukippen. Die Gesichter der steinernen Riesen waren stark verwittert.
Wieder ächzte Alan unter der Last seines Equipments. Er
führte die Jugendlichen im Laufschritt zu einer Stelle auf dem südlichen Kraterrand, von der aus man einen hervorragenden Blick in den Vulkankessel hatte. Zu Leos Überraschung gab es darin einen See, der teilweise von üppigem Grün bewachsen war. Wie von den Rängen eines Amphitheaters blickten zahlreiche Moais aufs Wasser hinab.
Der Wissenschaftler deutete zum Himmel. »Gleich beginnt die ringförmige Phase. Ihr müsst eure Augen schützen, wenn ihr in die Sonne seht. Hier, nehmt die. Ich benutze das Teleskop.« Er reichte ihnen leichte Brillen mit verspiegelten Gläsern und begann mit dem Aufbau seines Fernrohrs.
Leo setzte seine Brille auf und sah nach oben. Es war deutlich zu erkennen, wie der Mond die Sonnenscheibe zu etwa zwei Dritteln bedeckte. Vor diesen schob sich, so schien es, ein zweiter Erdtrabant.
»Der Komet ist viel kleiner als er wirkt«, erklärte Alan, während er eine Fotokamera ans Teleskop schraubte. »Was da so leuchtet, ist die sogenannte Koma. Sie entsteht durch Sublimation. Vereinfacht ausgedrückt wandelt sich Eis in Gas um und die dabei freigesetzten Staubteilchen fangen an zu leuchten.«
Kaum hatte er alles eingerichtet, begann auch schon die Ringphase der Finsternis. Über Rapa Nui wurde es so dunkel wie an einem sehr trüben Wintertag. Eine seltsame Stille senkte sich über den Vulkan, als hielte die Natur den Atem an.
»Irgendwie unheimlich«, flüsterte Leo. Sein Blick pendelte zwischen dem Schauspiel am Himmel und den reglosen Steinfiguren im Krater.
»In meinem Volk glaubt man, dass während einer Finsternis das Tor zu Osttarra aufgestoßen wird, dem Reich der lebenden Schatten«, sagte Orla leise.
»Hauptsache, es ist kein Hinterausgang von Inférnia«, brummte Leo.
»Faszinierend!«, entfuhr es Alan. Er blickte ins abgedunkelte Okular des Fernrohrs; seine Kamera schoss jede Sekunde ein Bild. Die Sonne bildete jetzt einen Feuerkranz. Anders als bei normalen Finsternissen dieser Art war der Erdtrabant davor
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