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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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begreifen, was mit mir geschah. Aber ich habe mir diese Reise oft ausgemalt; so vor mir gesehen, als würde sie vor meinen eigenen Kinderaugen ablaufen: ein winziger Säugling wird in Windeln gewickelt und behutsam in eine Flasche gelegt - ein großes grünes, an ein Goldfischglas erinnerndes Gefäß mit einem dicken Rand. Der Säugling liegt still auf dem Boden und betrachtet mit Augen, die so grün sind wie die Flasche, das Licht, das sich in dem Glas bricht. Der leere Raum um das Kind wird mit weichem weißem Brot ausgefüllt; süßem warmem Backwerk, das Hände, die so weiß schimmern wie das Mehl, geschickt aus dem Inneren des Laibes zupfen. Der Säugling ruht nun in einem Bett aus weißem Brot wie ein Cherub auf einer Wolke. Die Frau, die das alles tut, öffnet ihr Gewand und durchtränkt das Brot mit ihrer Milch. Der Säugling riecht die Milch, streckt seine kleine Zunge heraus und zappelt, um sie aus dem Brot zu saugen. Auf diese Weise wird er sich während der gesamten Reise
ernähren müssen. Schmale weiße Hände liebkosen ein letztes Mal seine Stirn, dann wird die Flasche mit einem flachen, runden, porösen Stopfen verschlossen, der fest genug sitzt, um die Geräusche des Kindes zu dämpfen, daber dennoch genug lebenswichtige Luft durchlässt.
    Die Frau trägt die Flasche vorsichtig zu dem Boot und legt sie eigenhändig hinein, zu elf anderen Flaschen, die bereits darin verstaut sind. Sie enthalten den edelsten venezianischen Wein, einen Valpolicella; ein Geschenk, das die frommen Schwestern sehr zu schätzen wissen werden. Das Boot legt mit einem Ruck ab, und der Säugling in der Flasche schaukelt fest schlafend über die Lagune seiner Heimatstadt. Im Hafen von Marghera werden die Flasche und ihre Kameraden in einen Karren umgeladen und treten den Weg nach Süden an. Der Säugling erwacht, schreit, nuckelt saure Milch und schläft wieder ein, bis der Karren nach langen Tagen endlich sein Ziel erreicht.
    Im Ospedale della Innocenta im Bezirk Santa Croce in Florenz ist man daran gewöhnt, Findelkinder aufzunehmen. Die meisten werden auf einem großen Rad abgelegt, das so in die Wand eingelassen ist, dass eine Seite nach innen, die andere nach außen ragt. Auf der äußeren Seite des Rades können missgebildete oder unerwünschte Kinder zurückgelassen werden, ohne dass jemand Fragen stellt. Das Rad wird dann gedreht und der Säugling im Inneren des Klosters in Empfang genommen. Allerdings sind die guten Schwestern nicht daran gewöhnt, auf dem für Findelkinder bestimmten Rad zwölf Flaschen mit venezianischem Wein vorzufinden. Nur die Äbtissin ist eingeweiht, sie befolgt die Anweisungen, die sie im Geheimen erhalten hat, und schaut in die zwölfte Flasche, in der das Kind entgegen allen Erwartungen, aber wie zur Antwort auf ihre Gebete noch am Leben ist. Apathisch, schlaff und so dünn, dass ihm die Windel vom Körper gerutscht ist, liegt es da. Das Brot, an dem es genuckelt hat, ist mit übel riechendem senffarbenem Kot bedeckt. Doch die Äbtissin achtet nicht darauf,
sie ist eine wahrhaft gütige, warmherzige Frau, und sie wärmt den vor Schmutz starrenden Säugling in ihrer Ordenstracht und wischt die Fäkalien mit ihrem eigenen Schleier ab, dann streifen ihre Lippen sanft meine Stirn, und ich erwache...
     
    Nun kennt ihr die Geschichte meiner seltsamen Ankunft in Florenz, und nun bin ich bereit, wie ein Dschinn aus meiner Flasche zu entweichen, mich in mein jetziges Ich zurückzuverwandeln und mit meiner eigentlichen Erzählung fortzufahren.
    Ich regte mich leise, woraufhin die Frau am Bug sich umdrehte, um mich forschend zu mustern. Meine Mutter trug wieder ihre Löwenmaske, ich konnte nur ihre Augen sehen - grünes Glas, vollkommen unbewegt, als hätte sie schon immer gewusst, dass dieser Augenblick eines Tages kommen würde. Ich wusste, wie meine erste Frage lauten würde, und ich bin sicher, sie wusste es auch.
    »Seid Ihr meine Vero Madre?«
    »Ja.«
    Ein leises Lächeln schwang in ihrer Stimme mit. Für sie war der kindliche Name, den ich ihr gegeben hatte, der mein Rückgrat gewesen war und mich während all der Jahre meines Hurendaseins aufrechtgehalten hatte, nichts weiter als ein dümmlicher Scherz. »Und Ihr habt mich als Säugling in einer Flasche nach Florenz geschickt?«
    »Das habe ich. Zu deiner eigenen Sicherheit.«
    Meine Augen wurden schmal. Ich hatte Angst vor ihr, aber nicht davor, die nächste Frage zu stellen. »Habt Ihr mich fortgeschickt, weil ich ein Bastard war?«
    Sie

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