Das Geheimnis Des Frühlings
sah ich noch einmal ganz deutlich, dass kein Ring am Daumen des Bräutigams steckte. Aber da wir von der Menge der aus der Kirche strömenden Gäste mitgeschwemmt wurden, erhielten wir auch keine Gelegenheit, das Gemälde eingehender zu studieren. »Was sollen wir tun?«, zischelte ich, während uns die Welle aus Seide und Satin auf Il Magnifico zutrug, der majestätisch auf seinem reich mit Schnitzereien verzierten Stuhl saß. Sein Diener reichte ihm Lorbeerzweige, die er an jeden scheidenden Gast weitergab. »Wir sollten uns seiner Gnade ausliefern«, entfuhr es mir, als ich das edle Gesicht betrachtete. »Wir stellen uns unter seinen Schutz, uns bleibt keine andere Wahl.« Mir entging nicht, dass sich Botticelli einen Weg durch die Menge bahnte, um zu mir vorzudringen.
Wir waren an der Reihe.
Bruder Guido nannte dem uns am nächsten stehenden Diener seinen falschen Titel. Der würzige Geruch des Lorbeers stieg mir in die Nase. Bruder Guido beugte sich über die Hand Lorenzo de’ Medicis.
Ich sah das Aufblitzen von Gold zu spät.
Il Magnificos Finger waren ringlos, sein linker Daumen jedoch nicht.
Im selben Moment, als Bruder Guidos Lippen die Hand
mit dem Ring berührten und seine blauen Augen sich in jäher Erkenntnis weiteten, löste sich ein Schatten von der Wand hinter Lorenzo, neigte den unter einer Kapuze verborgenen Kopf zu seinem Herrn, zog eine entstellte Hand aus dem Gewand eines Unreinen und deutete damit auf mich.
Mein gelähmter Verstand formte so quälend langsam wie die Litanei, die wir soeben über uns hatten ergehen lassen müssen, drei Gedanken.
Credo uno: Lorenzo Il Magnifico war einer der Sieben, nicht sein Vetter, der Bräutigam.
Credo due: Er schwebte nicht in Gefahr, er war die Quelle davon.
Und der furchterregendste von allen:
Credo tre: Cyriax Melanchthon war sein Geschöpf.
Ich fuhr herum, um dem Diener Einhalt zu gebieten, bevor er uns ankündigte, aber es war zu spät, er verkündete bereits in seinem lauten Toskanisch: »Lord Niccolo della Torre aus der Stadt Pisa.«
Eine Stimme antwortete von der Tür her ebenso laut und vernehmlich: »Kein Mann außer mir hat ein Recht auf diesen Namen!« Der Akzent war eindeutig pisanisch. Wie Marionetten drehten wir uns alle zugleich um.
Wie das Brautpaar beim Betreten der Kirche hob sich auch die Gestalt am Eingang schwarz gegen die einfallenden Sonnenstrahlen ab. Ich hätte seine affektierte Pose überall erkannt, obwohl ich dem Mann nur einmal begegnet war. Außerdem hätte sein Gefolge jegliche Zweifel ausgelöscht, denn es trug die Farben der Hahnenmannschaft und hielt die gelb und orangefarbenen Banner in die Höhe.
Es war Niccolo della Torre.
Viele, viele Male habe ich mich seit jenem Tag gefragt, warum es weder Bruder Guido noch mir je in den Sinn gekommen war, der echte Niccolo della Torre könne zu der Hochzeit eingeladen sein. Lag es daran, dass er für uns sozusagen vom Angesicht der Erde verschwunden war, seit sein Vetter seinen
Namen angenommen hatte? Oder waren wir so mit dem Rätsel der Primavera beschäftigt gewesen, dass wir seine Existenz darüber ganz vergessen hatten? Oder hatten wir angenommen, ein Mann, der nicht an einem Fest seines Vaters teilnahm, obwohl er in derselben Stadt wohnte, würde auch nicht wegen einer Hochzeit, und sei sie noch so prunkvoll, quer durch die Toskana reisen?
Letztendlich war es unerheblich, warum uns dieser Gedanke nicht gekommen war. Ich blickte in Bruder Guidos von jäher Furcht verdunkelte Augen und wusste, dass wir verloren waren. Aller Augen ruhten jetzt auf uns. Wir konnten nur noch auf das Ende warten.
Die Menge teilte sich vor Niccolo wie das Rote Meer vor Moses, um ihm den Weg freizugeben. Er war in ein prachtvolles Gewand aus Goldstoff gekleidet. Seine schwach ausgeprägten, weibischen Züge und seine heimtückischen Augen blieben unbewegt, aber seine Stimme troff vor Gift, als er die gefürchteten Worte aussprach: »Das ist mein Vetter, ein Franziskanernovize - Guido della Torre.«
Er achtete nicht auf das Raunen, das durch die Menge lief, sondern hob nur die Stimme, um es zu übertönen. Ich senkte den Kopf, als mich Don Ferrantes wutentbrannter Blick traf. »Und die Frau ist seine Mätresse. Ihr kennt sie als die Göttin Flora, aber sie ist beileibe keine Göttin, sondern nur eine gewöhnliche kleine Hure.«
Ehe ich ihn daran hindern konnte, riss er an dem Turban, der mein Haar bedeckte. Ich fuhr herum, als das Tuch zu Boden flatterte, meine weizenfarbenen Locken
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