Das Geheimnis Des Frühlings
mir bis zur Taille fielen und von dem Sonnenlicht in gesponnenes Gold verwandelt wurden. Die mich anstarrenden Gesichter begannen vor meinen Augen umherzuwirbeln, mir wurde schwindlig, und es gelang mir nicht, dem durchbohrenden Blick meines Anklägers noch länger standzuhalten. Mein gemalter Zwilling lächelte mir spitzbübisch zu, bot mir aber keine Hilfe an. Die ganze Hochzeitsgesellschaft war Zeuge meiner Demütigung.
Ich wusste nicht, was jetzt geschehen würde, aber mit dem, was dann geschah, hätte ich am allerwenigsten gerechnet.
Die Dogaressa erhob sich und ergriff das Wort. Ihre Stimme hallte klar durch die Kirche. »Das ist keine Hure, Signore. Sie ist meine Tochter und Eure Verlobte.« Dann nahm sie ihre Maske ab.
Ich kann nicht viel von dem wiedergeben, was sich als Nächstes abspielte, denn ich war kaum noch bei Sinnen. Ich muss mich auf das verlassen, was mein Mann mir später erzählt hat - ja, er war an diesem Tag gleichfalls in der Kirche. Als die Dogaressa die Maske abnahm, so sagte er, waren drei Ausgaben von mir zu sehen: ich, Flora und sie. Mutter und Tochter, behauptete er, hätten sich so ähnlich gesehen, als hätte ein venezianischer Spiegel zwischen uns gestanden. Ich selbst nahm die Ähnlichkeit nur einen Herzschlag lang wahr; ich registrierte, dass wir dieselben grünen Augen und das goldene Haar hatten und unsere Kleider sogar fast denselben Farbton aufwiesen. Doch als sie auf mich zukam und mein Bewusstsein endgültig schwand, sah ich, dass Floras leises Lächeln um ihre Lippen spielte. Die Situation amüsierte sie.
Als ich zu Boden sank, wurden mir drei Dinge klar.
Cosa uno: Bruder Guido wurde von zwei bewaffneten Medici-Wachposten zu Boden gerungen, für ihn gab es kein Entkommen mehr.
Cosa due: Die Menge gab der Dogaressa den Weg frei, und ich konnte einen ungehinderten Blick auf die Primavera und Floras letzte Rose werfen. Sie hatte einen grünen Stängel und ein schimmerndes Blatt, und sie fiel zu Boden. Ich stürzte mit ihr. Und dabei wurde ich von einem letzten Gedanken beherrscht.
Cosa tre: Ich hatte meine Vero Madre gefunden.
Teil 6
VENEDIG
August 1481
1
Wasser, Licht.
Ich war wieder ein Säugling, der in Vero Madres Schoß gewiegt wurde. Ich war ein Kind, das in ihren Armen gewiegt wurde. Ich war eine Frau, die in einem schaukelnden Boot gewiegt wurde. Unter mir Wasser, über mir Licht. Als ich die Augen aufschlug, drehte sich die Welt um mich herum wie ein Kreisel. Unter mir Licht, über mir Wasser. Ich ruhte, gegen Samtkissen gelehnt, in einem goldenen Boot, dessen Bug so scharf und gebogen war wie eine Henkersaxt. Ein Diener stakte uns mit einem langen Stab vorwärts, was mir verriet, dass das so unergründlich tief wirkende Wasser in Wahrheit nur ein seichter Graben war. Wie ich bald lernen sollte, waren viele Dinge hier nicht so, wie sie zu sein schienen.
Der Himmel über uns wies eine stumpfe silbergraue Farbe auf, der tief stehenden Sonne gelang es kaum, den dicken Wolkenteppich zu durchdringen. Die Stadt ringsum schien aus Glas zu bestehen. Zu beiden Seiten des Kanals ragten große, langsam verfallende silberne Palazzi direkt aus dem Wasser auf. Hunderte und Tausende kleiner runder Glasfenster beobachteten mich wie glitzernde Augen. Die Häuser erstreckten sich bis in die Lagune und spiegelten sich im Wasser wider, das vor meinen Augen flimmerte, bis ich in meinem benommenen Zustand nicht mehr zwischen Realität und Trugbildern unterscheiden konnte. Es gab keine klar erkennbare Horizontlinie, und der feine weiße Nebel, der uns umwaberte, trug zusätzlich
zu meiner Verwirrung bei. Ich befand mich in einem Land aus Rauch und Spiegeln.
Ich war in Venedig.
Und die Herrscherin dieses Wasserlandes saß regungslos wie eine Galionsfigur vor mir in dem Boot, das maskierte Gesicht dem Bug zugewandt. Eine Welle der Übelkeit schlug über mir zusammen, und ich schloss wieder die Augen. Der bittere Geschmack in meinem Mund verriet mir, dass man mir während der Zeit, die es gekostet hatte, mich hierherzuschaffen, Drogen verabreicht hatte.
Ich wollte nicht aufwachen. Noch nicht.
Und jetzt, während ich ein paar Momente lang im leeren Raum schwebe, ein Fötus, der darauf wartet, geboren zu werden; während ich einmal mehr von Glas umgeben bin, ist es an der Zeit, euch zu erzählen, wie ich als Säugling in einer Flasche von Venedig nach Florenz gelangt bin.
Das meiste weiß ich von den Nonnen, die mich aufgezogen haben, denn ich war zu klein, um zu
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