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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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ein mitternächtlicher Engel, dessen blasses Gesicht von einem Binsenlicht beleuchtet wurde und dessen Haar einem goldenen Heiligenschein glich. Sie ging zuerst zum Fenster. Ihr Atem ließ das Glas beschlagen, denn es war eine raue, stürmische Nacht, und heftiger Regen trommelte gegen die Glasscheibe. Die Überfahrt nach Marghera wäre fürchterlich geworden, trotzdem wäre ich jetzt lieber auf der schwankenden Fähre gewesen als in unmittelbarer Gegenwart dieser unberechenbaren Frau. Als sie sich umdrehte, schloss ich die Augen rasch wieder. Ich hörte, wie sie schnell und fast geräuschlos den Raum durchsuchte; hörte, wie sie die Truhe öffnete, in der sich bis zu diesem Abend das Gold und der cartone befunden hatten. Jetzt war sie leer. Das Gold, das ich gestohlen hatte, war sicher in dem provisorischen Geldbeutel unter meinen Röcken verborgen, das Bild steckte an seinem angestammten Platz in meinem Mieder. Ich dankte der Heiligen Jungfrau stumm dafür, dass ich heute Abend nicht mein Nachthemd angezogen hatte und meine beiden Geheimnisse am Leibe trug. Für meine Mutter
gab es hier nichts zu finden, was sie offenbar einsah, denn sie wandte sich zum Gehen. Doch dann blieb sie stehen. Ich spürte ihren Blick auf mir ruhen, hörte sie näher kommen. Das Bett erzitterte leicht, als sie sich neben mich setzte, und ich wartete auf die kalte Klinge, die Bonaccorso Nivola entmannt hatte. Dennoch ließ ich sie nicht merken, dass ich wach war; wenn sie mich töten wollte, würde ich jetzt sterben, und zwar ohne Widerstand zu leisten, denn alles, wofür es sich zu leben lohnte, war mir genommen worden. Dann spürte ich eine Berührung, aber es war die einer sanften Hand, die mir eine Locke aus dem Gesicht strich. Dann beugte sie sich über mich und küsste mich so liebevoll auf die Wange, als wäre ich noch immer der Säugling, den sie in einer Flasche ausgesetzt hatte. Ihr warmer Atem strich über meine Haut, ihre Lippen streiften sie sacht - Lippen, die die Zunge verbargen, die an einem blutigen Messer geleckt hatte. Dann war sie fort.
    Es regnete die ganze Nacht, draußen vor meinem Fenster und drinnen auf mein Kissen.

7
    Mir war, als würde ich aus einem Alptraum erwachen; ich fühlte mich benommen und hoffnungsvoll zugleich. Goldenes Sonnenlicht fiel durch mein Fenster, und die Schrecken des vergangenen Tages verschwanden für einen Moment, dann kehrte die Erinnerung mit Macht zurück. Ich erhob mich und streckte mich. Mein Körper, dieser Verräter, verlangte nach Nahrung, wollte leben. Marta kam mit meinem Frühstück, und ich aϐ hungrig, da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Dann brachte sie mir ein prächtiges, vollständig mit Pfauenfedern besetztes Gewand und eine dazu passende Maske. Ich starrte sie verständnislos an.

    »Karneval«, erklärte sie knapp.
    Madonna. Das hatte ich ganz vergessen.
    Wie eine willenlose Marionette ließ ich mich ankleiden. Ich würde das gehorsame Geschöpf meiner Mutter sein, denn ich sah keine Möglichkeit mehr zur Flucht und hoffte auch nicht mehr darauf, Bruder Guido wiederzusehen. Was mit mir geschah, zählte nicht mehr.
    Zur Prim wurde ich zu meiner Mutter befohlen, die mich auf dieselbe Wange küsste wie in der Nacht zuvor und mich wohlgefällig betrachtete. Sie war ganz in weiße Federn gehüllt und hatte die Löwenmaske mit der eines Schwans vertauscht, die sie anlegte, als wir ins Freie traten. Mein Vater erwartete uns in seinem Festtagsgewand und mit dem corno -Hut am Fuß der Treppe, genau an der Stelle, wo ich mich von Signore Cristoforo verabschiedet hatte. Er begrüßte mich nicht, woraus ich geschlossen hätte, dass man ihm von meiner geplanten Flucht berichtet hatte, wenn er mich nicht grundsätzlich nie zur Kenntnis nehmen würde. Ich fragte mich, wie viel er wusste, als er meiner Mutter eine Hand hinhielt und sie sie ergriff.
    Als wir mit dem herzoglichen Gefolge den Markusplatz überquerten, stoben Wolken von Tauben vor uns auf. Venedig glich heute einer einzigen riesigen Tierschau - als Papageien und Löwen verkleidete Bürger tanzten mit Tigern und Affen, Kurtisanen bedeckten ihre Gesichter und entblößten ihre Brüste. Händler verkauften Masken und Becher mit Wein, Zirkusartisten hüpften auf Stelzen umher oder schluckten Feuer. Schauspieler von der Commedia kreischten ihre Zeilen heraus. Die Sonne schien erbarmungslos, aber die Luft war eisig kalt. Mein Atem bildete kleine Wölkchen vor meinem Mund, doch mein Scheitel brannte. Ich wusste nicht,

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