Das Geheimnis Des Frühlings
kamen zwei korallenfarbene Rosen von genau der Art wie die in Floras gerafften Röcken, die wir so mühsam und vergeblich gezählt hatten, waren wir doch bezüglich der zweiunddreißigsten nie
zu einer konkreten Schlussfolgerung gelangt. Zuletzt identifizierte ich eine doppelköpflge Kornblume, so blau wie die Lagune im Zwielicht. Ein Fiordaliso. Zehn Blütenköpfe, vier Arten. Occhiocento, Anemone, Rose und Fiordaliso. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich abgesehen von der Rose nicht an die lateinischen Namen der Blumen erinnern, also musste ich mit der Zahl Vier, der Zehn oder den Buchstaben R, F, O und A arbeiten.
Ich seufzte. Es erschien mir sinnlos, versuchen zu wollen, ein Wort aus diesen vier Buchstaben zu formen. Dennoch beschloss ich, es zu versuchen. Dabei war ich mir durchaus bewusst, dass ich Zuflucht bei unserem Rätsel suchte. Wenn ich mich gedanklich beschäftigte, blieb mir keine Zeit, über die Schrecken des heutigen Tages nachzugrübeln oder mir auszumalen, welche Schrecken einem anderen Mann in einem anderen Gefängnis in einem anderen Stadtstaat bevorstehen mochten.
Nun dann.
R für Rose.
A für Anemone.
F für Fiordaliso - Kornblume.
O für Occhiocento - Hundertauge.
Nach kurzer Zeit kam ich zu folgendem Ergebnis:
RAFO.
ROFA.
OFAR.
ORAF.
FARO.
FORA.
AFRO.
ARFO.
Keine dieser Buchstabenfolgen schien ein Wort zu ergeben, zumindest keines, das ich kannte. Ich wünschte verzweifelt eine weitere Blume mit einem anderen gebräuchlichen Anfangsbuchstaben herbei. Wenn ich nur ein L hätte, könnte
ich FLORA bilden, was mir bedeutsam erschien (inwiefern, konnte ich allerdings nicht sagen). Aber ich durfte nicht aufs Geratewohl etwas hinzufügen, was nicht da war; ich musste mich mit dem begnügen, was ich hatte. Vielleicht sollte ich einen Buchstaben für jede Blüte nehmen, also zwei F für zwei Kornblumenköpfe? Und so weiter. Aber auch das führte nicht zu dem gewünschten Erfolg, nur zu weiteren aberwitzigen Buchstabenkombinationen.
Dann ging ich von Buchstaben zu Zahlen über. Vielleicht war die Zahl Vier, die Anzahl der Blumenarten, der Schlüssel, oder die Zehn, die Anzahl der Blüten. Aber damit kam ich erst recht nicht weiter. Es gab vier Jahreszeiten, vier Windrichtungen und vier Apostel, aber zur Zehn fielen mir nur die Zehn Gebote ein, und das auch nur, weil ich die meisten davon übertreten hatte.
Letztendlich gab ich auf und starrte blicklos aus dem Fenster. Aus alter Gewohnheit rollte ich den cartone zusammen und schob ihn in mein Mieder. Das erwies sich als keine gute Idee. Wie eine Motte, die zu der Kerze zurückfliegt, obwohl sie sich die Flügel daran versengt hat, so kehrte ich in Gedanken immer wieder zu dem Ort zurück, wo mich das Verhängnis ereilt hatte. Ich konnte nur an den Mann denken, den ich für immer verloren hatte. Ein anderer Abend in einer anderen Stadt fiel mir ein, an dem ich über ein anderes Meer hinweggestarrt hatte. An diesem Abend war es die Bucht von Neapel gewesen. Kurz zuvor hatte ich Bruder Guido in seiner Kammer überrascht, wo er mit blutig gegeißeltem Rücken auf seinem Bett gelegen hatte - die Strafe, die er sich selbst für die Sünde auferlegt hatte, mich geküsst zu haben. Jetzt, Hunderte von Leugen entfernt, blutete mein Herz langsam aus, und in mir wurde es immer kälter und stiller. Vielleicht war es besser, dass wir getrennt worden waren; dass er sterben würde, denn ich würde nie wieder mit ihm zusammen sein können, ohne ihn berühren, ihn küssen zu wollen. Besser, er starb und ich gleich mit ihm.
Ich blieb den ganzen Tag in meiner Kammer, verweigerte Nahrung und Getränke und verbat mir jegliche Gesellschaft. Die Sonne versank in der Lagune, die Gondoliere und Huren wappneten sich für das Abendgeschäft. Endlich fiel ich, von der durchwachten letzten Nacht und den Anstrengungen des Tages erschöpft, in meinen Kleidern auf mein Bett und schlief sofort ein.
Und erwachte, als meine Mutter den Raum betrat. Ich wusste, dass sie es war, noch bevor ich sie sehen konnte; ich kehrte der Tür zwar den Rücken zu, aber das Rascheln ihrer Röcke und ihre Atemzüge verrieten mir, um wen es sich bei dem nächtlichen Besucher handelte. Die Furcht, die mich in der Kehle würgte, und der feine Schweißfilm, der sich auf meiner Oberlippe bildete, bestätigten meinen Verdacht. Ich bemühte mich, möglichst ruhig und gleichmäßig zu atmen, um Schlaf vorzutäuschen, blinzelte dabei aber vorsichtig durch meine Wimpern. Sie kam in mein Blickfeld;
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