Das Geheimnis Des Frühlings
Anfang an gewusst. Einmal mehr stiegen wir die Stufen zu den Gefängniszellen hinab, in die Eingeweide des Staates Venedig hinein. Meine nagende Furcht verstärkte sich, und meine Haut begann zu prickeln. Wieder wich das Licht der Dunkelheit, als wir die luftigen, hellen Palasträume hinter uns ließen und in die düsteren Gänge der pozzi gelangten, wieder schlugen die Schreie der Gefangenen an mein Ohr, das Flehen der geistig Gesunden und das wirre Gestammel derer, die den Verstand verloren hatten. Wieder drang mir die Kälte bis ins Mark, und die Feuchtigkeit verschlug mir den Atem. Ich sah Kratzer über den Türen, die die Nummern der Zellen angaben - hier unten trugen die Gefangenen, die auf die Folter oder den Tod warteten, keine Namen mehr, sondern nur noch Nummern, denn die Freiheit würden sie nie wieder erlangen.
»Hier«, sagte meine Mutter obenhin. Sie nickte einem korpulenten Wärter zu, der ehrerbietig zur Seite trat.
Ich warf ihr einen fragenden Blick zu. Auf ein weiteres Nicken hin trat ich in die Zelle, wobei ich halb damit rechnete, die Tür hinter mir ins Schloss fallen zu hören, denn inzwischen war ich davon überzeugt, dass meine Mutter irgendetwas wusste. Stattdessen schlug mir der Gestank von Kot und Erbrochenem entgegen, gepaart mit einem süßlichen, ungewohnten Geruch, den meine Nase erkannte, bevor mein Bewusstsein es tat - ich war wieder in meinem alten Haus am Arno, dessen Boden ein blutroter See bedeckte, und blickte auf Ennas aufgeschlitzte Kehle.
Blut.
In der Ecke hatte sich ein wimmerndes, weinendes Geschöpf wie ein Säugling zusammengerollt. Ich wich voller Entsetzen zurück und blickte in das unbewegte Gesicht meiner Mutter, die so beiläuflg, als stelle sie mir einen Gast vor, die furchtbaren Worte aussprach.
»Signore Bonaccorso Nivola kennst du ja schon.«
Beim Klang seines Namens entrollte sich das Ding in der Ecke wie ein Hund, der nur auf die Rufe seines Herrn reagiert, und wandte mir das Gesicht zu. Da ich nicht ertragen konnte, was ich dort sah, senkte ich den Kopf und erblickte noch Schlimmeres: Seine Hose war im Leistenbereich aufgeschlitzt, und ein einzelnes blutiges Anhängsel baumelte dort, doch zwei wesentliche Bestandteile seiner Anatomie fehlten - ein grausiges Spiegelbild dessen, was mit seinem Gesicht geschehen war. Das noch feucht schimmernde Messer, mit dem die Tat begangen worden war, lag auf einem hölzernen Stuhl. Meine Mutter griff danach, führte beide Seiten der Klinge an ihre Zunge und schmeckte das Blut des Mannes. Es benetzte ihre ungeschminkten Lippen, und ihre Augen glitzerten im Dunkel grün wie Jade. In diesem Moment floh ich aus der Zelle, und als ich mich heftig übergab, begriff ich, was ich gesehen hatte.
Seine Augen und Hoden waren verschwunden.
Während ich von Würgeanfällen geschüttelt wurde, spürte ich plötzlich, wie mir jemand den Rücken rieb; etwas, was jede normale Mutter mit einem kranken Kind machen würde.
»Dein Lehrer ist nach Genua zurückgekehrt«, sagte sie. »Wir haben ihm nichts zuleide getan. Aber dein Vater und ich möchten gern, dass du noch ein wenig bei uns bleibst.«
Auch das wurde so freundlich, fast liebevoll gesagt, als spräche sie mit einem Gast, der sich verfrüht verabschieden wollte.
Der Wärter, dem derartige Szenen nicht fremd waren, zuckte mit keiner Wimper. Er zog ein schmutziges Tuch aus seinem Gürtel, breitete es über mein Erbrochenes und wischte die Bescherung mit dem Fuß fort, wofür ihm meine
Mutter einen Dukaten zuwarf. Und ich taumelte die Treppe hinauf und flüchtete durch die langen Gänge in meine Kammer zurück.
6
Bonaccorso Nivola, Bonaccorso Nivola.
Ich hatte die Furcht in seiner Stimme gehört. Ich erinnerte mich daran, dass er gefragt hatte: »Weiß ihre Mama davon?« Nicht »ihr Vater«. Mir fiel wieder ein, wie blass er geworden war, als er gedacht hatte, die Dogaressa stünde vor ihm. Er wusste, was ich nur vermutet hatte, als ich hierhergekommen war - die Löwin war schön, aber tödlich gefährlich. Ich litt mit seiner Familie, mit der unbekannten Lisabetta. Wenn sie ihren Mann so geliebt hatte, wie ich meinen liebte, musste sie jetzt entsetzliche Qualen durchstehen. Ihr Mann schmachtete im Gefängnis, genau wie meiner, wir teilten dasselbe Schicksal, aber ihres wog hundertmal schwerer - sie war so gut wie verwitwet, mit vaterlosen Kindern, ohne Geld, dafür aber einem leeren Bett, einem leeren Vorratsschrank und einem leeren Herzen. Blinde Berechnung . Signore
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