Das Geheimnis Des Frühlings
nieder, bis dieser gut einen Zoll unter Wasser stand. Acqua alta - das Hochwasser war gekommen; das Meer forderte die Stadt zurück. Meine Mutter nahm meine Rückkehr mit sichtlicher Erleichterung zur Kenntnis, und mir wurde einmal mehr klar, dass ihr wirklich etwas an mir lag und sie froh war, dass mir nichts zugestoßen war. Aber noch war ich nicht in Sicherheit, keiner von uns war das. Gott scheute nicht davor zurück, sein eigenes Haus mit seinem Zorn zu überschütten. Donnergrollen brandete auf, ein gleißendes Licht zuckte über den Himmel, über uns ertönte ein gewaltiger Knall, dann begann Geröll auf uns niederzuregnen. Mein Vater brüllte über das allgemeine Geschrei hinweg: »Das Golddach zieht die Blitze an, wir müssen so schnell wie möglich zum Palazzo zurück.«
Es war der längste Satz, den ich bislang aus seinem Mund vernommen hatte.
Er und meine Mutter verließen die Vorhalle als Erste, gefolgt von dem herzoglichen Gefolge. Marta wurde von ihnen mitgeschwemmt. Ich wusste, dass sie mich nicht sofort vermissen würde, daher duckte ich mich in eine Nische und verbarg mich dort. Ich verfolgte keinen klar umrissenen Plan, ich wollte den kalten Augen meiner Hexe von Mutter so lange wie möglich entfliehen, denn ich brauchte Zeit zum Nachdenken; ich musste überlegen, wie ich weiter vorgehen sollte. Nachdem sich das Atrium geleert hatte, blickte ich eingebungheischend nach oben und erblickte ein fantastisches römisches Mosaik, das die vier Jahreszeiten zeigte. Die Frühlingsfigur, mit Blumen bekränzt und von mythischen Geschöpfen umringt, die sich paarweise vor der Sintflut in der Arche Noah in Sicherheit zu bringen suchten, sah mich direkt an und deutete mit der
Hand gen Himmel. Und da wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war.
Ich schlich in den weitläuflgen dunklen Innenraum der Basilika, deren Boden bereits hoch unter Wasser stand. Der Weihrauchduft würgte mich in der Kehle, die Stimmen der Priester meines Vaters hallten flehend durch den Raum. Es war ihnen nicht gelungen, Venedig damals vor der Seuche zu bewahren; sie hatten nicht einmal die erste Frau meines Vaters vor der Pest retten können, doch mit einer fast anrührenden Gläubigkeit suchten sie wieder einmal eine biblische Plage von der Stadt abzuwenden. Ich lungerte im Kirchenschiff herum und hielt nach der Tür Ausschau, von der ich wusste, dass sie hier sein musste, weil die Frühlingsgöttin sie mir gezeigt hatte. Endlich entdeckte ich die kleine Pforte und erklomm die Stiege, die hoch in die Galerie hinaufführte. Während ich zur Kuppel emporkletterte, beobachteten mich byzantinische Gesichter mit großen, mandelförmigen Augen voller Interesse, ohne sich um die hinter den Bogenfenstern aufzuckenden grellweißen Blitze zu scheren.
Als ich auf den Balkon hinaustrat, hämmerte der Regen erneut auf mich ein, und die Blitze schienen so knapp über mich hinwegzuzischen, dass ich fürchtete, jeden Moment wie eine Kammmuschel gebraten zu werden. Ich duckte mich hinter das mir am nächsten stehende Pferd, wobei mir die Ironie, die darin lag, dass mich ausgerechnet diese Windrösser jetzt vor einem Sturm schützten, durchaus bewusst war. Noch vor wenigen Momenten wäre ich frohen Herzens von hier oben in den Tod gesprungen, und jetzt klammerte ich mich verzweifelt an dem Bronzepferd fest und verbarg mich unter seinem Bauch wie ein Fohlen auf der Suche nach dem Euter. Trotzdem wusste ich, dass ich mich genau auf der falschen Seite befand - nämlich unter dem östlichen Pferd -, also kroch ich an sechs langen Hinterbeinen und sechs massiven kupfernen Hengsteiern vorbei zu dem westlichen Pferd, umklammerte seinen Hals, zwinkerte mir Regentropfen aus den Augen
und blickte in das edle Gesicht des Tieres, doch seine wilden Augen verrieten mir nichts. Es hob mir jedoch seinen rechten Vorderhuf entgegen wie ein freundlicher Hund, der angewiesen worden war, Pfötchen zu geben. Es kam mir ganz natürlich vor, meine klamme Hand um den Huf zu schließen und nach einer Inschrift, einem Hinweis, irgendetwas Ausschau zu halten. Das kupferne Bein summte, als der Blitz erneut in die Kuppel einschlug, dann löste es sich knirschend und fiel in meine Hand. Ich fing es gerade noch rechtzeitig auf, betrachtete angewidert die Bescherung, die ich angerichtet hatte, und stellte fest, dass der untere Lauf hohl war. Hohl und nicht schwer.
Madonna .
Irgendetwas steckte darin. Ich griff hinein und zog eine hölzerne Rolle hervor, etwa so lang wie mein
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