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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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folgte ihm in eine helle, luftige Kammer, die nur einen Stuhl, ein Schreibpult und ein Kruzifix enthielt. Das Fenster ging auf einen weiteren kleinen Hof hinaus, und ich begriff, dass das Klostergelände viel weitläufiger war, als ich gedacht hatte. Es setzte sich aus einer Reihe konzentrischer Vierecke zusammen, von denen eines in das andere passte wie die Einzelteile einer russischen Puppe.
    Der Abt erhob sich von seinem Stuhl und begrüßte uns mit einem Wort, das ich nicht verstand. Bruder Guido antwortete in derselben Sprache. Ich musterte den alten Mann verstohlen, und sofort wurden mir drei Dinge klar.
    Qualcosa uno : Er hatte weißes Haar und lächelte wie ein gütiger Onkel.
    Qualcosa due : Er verstümmelte unsere schöne Sprache beim Sprechen auf eine Weise, wie ich es noch nie gehört hatte; legte zwischen unseren melodischen Vokalen eigenartige Pausen ein, und die Konsonanten stieß er so abgehackt hervor, dass sie wie eine Soldatentrommel klangen. Aber ich war während unseres Aufstiegs auf diesen Akzent vorbereitet worden, denn der Abt war ein gebürtiger Engländer namens Giles of Cambridge. Demnach hatte er meinen Freund auf Englisch begrüßt.
    Qualcosa tre : Seine Augen waren so blau wie alte Milch, und über Iris, Pupille und dem Weiß lag ein rauchiger Film. In
diesem Moment begriff ich, dass Bruder Guidos Plan, den wir beim Erklimmen der hundert Stufen ausführlich besprochen hatten, durchaus funktionieren konnte.
    Denn der Abt war blind.
    Also konnte ich ihn so lange anstarren, wie ich wollte, solange ich im entscheidenden Augenblick meine Rolle nicht vergaß. Aber es war nicht so sehr das, was ich sah, was mich in Erstaunen versetzte, sondern das, was ich hörte. Und nicht der Akzent, sondern die Worte ließen mich stutzen. Das Gespräch verlief wie folgt:
    »Conte della Torre«, begann der alte Mann. »Welch eine Ehre! Wie geht es Eurer Familie? Und Eurem guten Onkel?«
    Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als ich meinem gar nicht mehr so demütigen Gefährten einen Blick zuwarf. Conte della Torre? Trotz all der vorsichtigen Hinweise auf Wohlstand und Einfluss hätte ich nie vermutet, dass Bruder Guido selbst ein signore sein könnte - ein Edelmann. Hmm. Ich wusste nicht, ob ich mich über diese Enthüllung freuen oder ärgern sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es sich für mich nur als Vorteil erweisen konnte, einen reichen jungen Adligen als Beschützer zu haben. Vielleicht war er ja doch imstande, meine Haut zu retten.
    Bruder Guido selbst schenkte mir keine Beachtung und schien sich auch nicht daran zu stören, dass ich jetzt seine wahre Identität kannte. Er erwiderte nur gelassen: »Gut, ehrwürdiger Abt, gut. Aber erinnert Euch doch bitte daran, dass ich jetzt Novize in Santa Croce bin und somit als Bruder Guido durch die Welt gehe.« Er kniete nieder, um den Ring des Abtes zu küssen, den ich fasziniert betrachtete. Madonna, der musste etliche Florins wert sein. Ich beobachtete die beiden Männer scharf und wartete auf meinen eigenen Auftritt. Doch die Unterhaltung verlief vorerst belanglos.
    »Richtig, Ihr habt Euch ja unserer Gemeinschaft in Gott angeschlossen«, versetzte der Abt erfreut. »Ihr müsst mir vergeben, ich habe Eure Kutte nicht bemerkt.« Er lächelte auf
eine Weise, die bewies, dass er das Schicksal akzeptierte, mit dem Gott ihn geschlagen hatte; er hatte sich so an seine Blindheit gewöhnt, dass er sogar noch Scherze darüber machen konnte. Ich fing an, ihn zu mögen, wurde dann aber aus meinen Gedanken herausgerissen wie ein Schauspieler, der sein Stichwort hört.
    »Und darf ich Euch Bruder Lucius von Salerno vorstellen?«
    Ich besann mich auf meine Rolle und schlug meinen Umhang zurück, um zu verhindern, dass der Abt den kostbaren Pelz berührte. Ich hatte mir Bruder Guidos Rosenkranz um das Handgelenk geschlungen und die hölzernen Perlen zwischen meinen Fingern verflochten, damit der Abt sie ertastete, wenn ich seine Hand ergriff. Sie fühlte sich alt und rau wie Pergament an. Ich beugte mich darüber und streifte seinen Ring so behutsam mit meinen Lippen, wie ich es vermochte; wohl wissend, dass ein Frauenmund sich verräterisch weich anfühlt. Dem alten Mann schien nichts Ungewöhnliches aufzufallen, und das Gespräch nahm seinen Fortgang.
    »Bruder Lucius unterliegt momentan einem Schweigegelübde«, erklärte Bruder Guido, »deshalb entbiete ich Euch an seiner Stelle seine Grüße. Er ist ein wahrer Büßer, denn er hat den weiten Weg

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