Das Geheimnis Des Frühlings
tat.
»Nun, Signorina Vetra, Ihr tätet gut daran, mir genau zu berichten, was heute geschehen ist. Versucht, keine Einzelheit auszulassen, denn die kleinste Kleinigkeit kann uns helfen, uns von jeglicher Schuld an den tragischen Ereignissen zu befreien.«
Ich sah ihn mit großen Augen an. »Ihr glaubt, wir könnten mit heiler Haut aus diesem Schlamassel herauskommen?«
Er nickte unter seiner Kapuze. »Ich bin sicher, dass die Dinge wieder ins Lot kommen, wenn wir mit glaubwürdigen Erklärungen aufwarten können.«
Ich spürte, dass seine Zuversicht merklich zugenommen hatte, was sich auch auf mich übertrug. Die Straße schlängelte sich vor uns entlang, und die schwarzen Zypressen, die sie säumten, ragten wie eigens zu unserem Schutz aufgestellte Speere gen Himmel. Weinrebenranken erschwerten uns das Vorwärtskommen, boten aber eine willkommene Mahlzeit. Die Blätter schimmerten im fahlen Mondlicht. Völlig ausgehungert schob ich sie beiseite, pflückte die tiefblauen, reifen Traubenbüschel und schob mir die süßen Früchte in den Mund. Der gute Bruder rührte die Leckerbissen nicht an - er tadelte mich
zwar nicht, aber aus seinem Blick sprach ein stummer Vorwurf. Vielleicht hielt er mein Tun für Diebstahl. Ich scherte mich nicht darum. Die von unseren Schritten aufgeschreckten Feldmäuse huschten über meine bloßen Füße, woraufhin ich kichern musste. Unser Atem bildete kleine Wölkchen vor unseren Mündern, aber mein Umhang und die körperliche Anstrengung lösten eine angenehme Wärme in mir aus, und für eine Weile vergaß ich sogar meine schmerzenden Füße. Tatsächlich begann ich mich immer sicherer zu fühlen, je weiter wir Florenz, den schlafenden Tiger und den Krokodilszahnturm unter uns zurückließen, und ich fragte mich flüchtig, ob sich dies nicht als verhängnisvoller Fehler erweisen würde.
Aber auch die Stimmung meines Begleiters schien sich merklich gehoben zu haben. »Ja, Signorina Vetra, wir stehen nicht ganz allein da. Der Abt des Klosters, das wir aufsuchen werden, ist ein alter Freund von mir - und natürlich auch von meiner Familie...« Er brach ab, aber es war zu spät, ich hatte bereits gefolgert, dass er über gute Beziehungen und offenbar auch einigen Einfluss verfügte. Er wartete, und ich stürzte mich in einen Bericht über die Ereignisse des vergangenen Tages. Ich erzählte ihm, wie ich dazu gekommen war, Botticelli Modell für seine Flora zu stehen und beschrieb ihm die Schönheit des fast fertiggestellten Bildes sowie den ebenso unverhofften wie unerklärlichen Wutanfall des Malers. Ich gestand den Diebstahl des kleineren Bildes aus dem Geheimfach und bekannte leicht verschämt, dass ich an seiner Stelle die Flugschrift zurückgelassen hatte, die Bruder Guido mir gegeben hatte. Dann berichtete ich mit gedämpfter Stimme von den Morden an Enna und Bembo und dass im ersten Fall das Opfer mit mir verwechselt worden war und ich im zweiten als Mörderin gesucht wurde. Es war eine lange Geschichte, und als ich zum Ende kam, war mein Hals fast so wund wie meine Füße. Aber wir hatten während meiner Erzählung ein gutes Stück Weg zurückgelegt und die prachtvollen Villen oben auf dem Hügel erreicht, in denen wie in San Miniato
die Reichen in luftiger Höhe über der Stadt residierten. Ich spähte neugierig durch die hohen Tore und Bögen und bewunderte die friedlichen, eleganten Höfe mit ihren Baumreihen und künstlich angelegten Teichen. Einmal wollte ich meinen Augen nicht trauen, als ich einen Blick auf eine Giraffe erhaschte, die langsam in der Morgendämmerung über eine Rasenfläche schritt und den langen Hals beugte, um an einer Hecke zu knabbern. Ich wandte mich an Bruder Guido, um ihn auf diesen einzigartigen Anblick aufmerksam zu machen, aber der Mönch war wieder tief in Gedanken versunken. Zuerst dachte ich, sein Zorn auf mich wäre zurückgekehrt, aber ein Blick auf sein edles Profil verriet mir, dass er gründlich über das nachdachte, was ich ihm erzählt hatte. Ich ließ meine Geschichte noch einmal an mir vorüberziehen und erkannte mit sinkender Zuversicht, dass sie sich anhörte wie die wilden Fantasien einer Irrsinnigen. Aber der Bruder, der das Ende dieses ereignisreichen Tages selbst miterlebt hatte, schien in keiner Weise geneigt, an meinen Worten zu zweifeln. Er behielt sein rasches Tempo bei, und schließlich brach er sein Schweigen. »Selbst der voreingenommenste Zuhörer müsste einräumen, dass Ihr nur aus einem Affekt und aus Bosheit heraus
Weitere Kostenlose Bücher