Das Geheimnis Des Frühlings
hat, von den guten Bürgern dieser Stadt erdrückt zu werden. Tok hat mir auf einem Feldzug
in der Lombardei das Leben gerettet und wünscht jetzt vermutlich, er hätte es nicht getan.« Der Riese lächelte nicht. Es war zweifelhaft, ob er zu einer solchen Regung überhaupt imstande war, denn sein Gesicht war vollständig mit Narben bedeckt. Seine Augen waren so klein wie sein Kopf groß, hart, dunkel und rund wie zwei in ein Schlachtfeld eingeschlagene Kanonenkugeln. Sein Alter mochte irgendwo zwischen zwanzig und vierzig liegen, seine Größe und die Narben machten eine genauere Schätzung unmöglich. Wir dankten ihm höflich.
»Es warr mirr ein Vergnügen.« Tok verneigte sich leicht. »Und es wirrd mirr ein Vergnügen sein, Euch so gut zu beschützen, wie ess mirr möglich ist, solange Ihrr bei meinem Herrrrn weilt.«
Sein gutturales Toskanisch war schwer zu verstehen, außerdem vermutete ich, dass ihn einmal eine Klinge in den Hals getroffen haben musste - im Dienste seines Herrn? Aber ich konnte nicht leugnen, dass ich mich jetzt, da der Wein meinen Magen wärmte und ich des Schutzes dieses Hünen sicher sein konnte und die Aufmerksamkeiten seines Herrn genoss, schon viel besser fühlte. Mir gefiel Pisa. Die Menschen schienen freundlich zu sein, die Sitten locker. Ich trank einen weiteren Schluck, während sich Signore Silvio mit Bruder Guido unterhielt, der jetzt rechts von seinem Onkel saß. Ich fragte mich, worüber sie wohl sprachen und wie Bruder Guido meine Anwesenheit erklärte. Dann fing ich seinen Blick auf. Er nickte und lächelte, als wollte er mir versichern, dass wir am Ende unserer Reise und in Sicherheit waren. Ich begann mich zu entspannen und mich neugierig umzuschauen. Unter uns wurden zweifellos Vorkehrungen für irgendein lokales Schauspiel getroffen, denn die Mitte des Platzes begann sich zu leeren. Zeremonienmeister eilten herbei, um zwei Mannschaften zusammenzustellen, und Hornisten bliesen die Wangen auf, um Fanfaren erschallen zu lassen.
Signore Silvio beugte sich zu mir. Ich erstarrte, weil ich fürchtete, er könne mich fragen, was ich in der Gesellschaft
seines keuschen Neffen zu suchen hatte. Aber es stellte sich heraus, dass er mir nur erklären wollte, worum es bei diesem Schauspiel ging. Was auch immer Bruder Guido ihm gesagt haben mochte, es hatte gereicht, um seine Neugier vorerst zu befriedigen, denn er konnte seinem Onkel unmöglich in so kurzer Zeit von all unseren Abenteuern berichtet haben. Ich hörte auf, mir Sorgen zu machen, und mir wurde bewusst, dass Signore Silvios warmer Atem über meinen Hals und mein Ohr strich. Bruder Guidos Onkel war wirklich ein attraktiver, reifer Mann, und so ließ ich all meine Flirtkünste spielen, obwohl ich gerne einen Spiegel gehabt hätte, um mich vorher ein wenig herzurichten.
»Signorina«, begann der Padrone. »Ihr werdet gleich Zeugin eines unserer ältesten pisanischen Bräuche werden, den Kaiser Hadrian persönlich eingeführt hat. Die pisanischen Spiele enden mit dem Gioco del Ponte .« Ich erkannte die Worte wieder, die Bruder Guido auf dem Turm gebraucht hatte. »Es ist ein alter Wettkampf zwischen der Mannschaft des Hahnes«, er deutete auf einige in Rot und Orange gekleidete Männer, »und der der Elster.« Diesmal zeigte er auf die Gegenseite, die schwarzweiße Tuniken trug. »Es wird Euch nicht entgangen sein, dass mein Diener Tok zu den Hähnen gehört, denn das ist meine Mannschaft, obwohl ich als Oberherr dieser Stadt eigentlich keine Partei ergreifen dürfte.« Er lächelte, und ich bemerkte, dass er trotz seines Alters noch gute Zähne hatte.
Ehrlich gesagt interessiere ich mich nicht sonderlich für Spiele jeglicher Art, war aber entschlossen, den Anblick von vierundzwanzig gut gebauten Männern zu genießen, während Signore Silvios Diener mich mit Wein versorgten. Wie im Märchen fuhr plötzlich eine goldene Kutsche mit dem della-Torre-Wappen vor. Signore Silvio half mir hinein und machte es mir auf den Samtkissen bequem, dann nahm er neben mir Platz. Bruder Guido saß mir gegenüber. »Ihr, Signorina Luciana«, lächelte der Padrone, »werdet heute meine Glücksbringerin
sein. Und ich muss sagen, eine schönere habe ich noch nie gesehen.«
Mein katzenhaftes Grinsen erstarb beim Anblick von Bruder Guidos verdrossenem Gesicht. »Keine Sorge«, flüsterte ich. »Wahrscheinlich hat er das gesagt, weil ich ein rot-orangefarbenes Kleid trage, die Farben der Hähne.« Tatsächlich hatte mein schlammbespritztes Kleid
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