Das Geheimnis Des Frühlings
ebenjener Turm, unter dem wir gerade stehen.«
Bruder Guido zuckte die Achseln. »Ein Schiff«, stellte er überflüssigerweise fest. »Nichts Ungewöhnliches. Pisa ist für seine Macht zur See bekannt. Schiffsdarstellungen tauchen in unserer Kunst und Architektur ständig auf.«
»Aber dieses Relief ist neu - man kann fast noch den Marmorstaub riechen«, gab ich zu bedenken. Ich hatte in Florenz einmal einen Steinmetz bedient, der mein bestes Gewand mit dem schneeweißen Staub von Carrara- Marmor besudelt hatte. Wenn er nicht so gut bezahlt hätte, hätte ich mich darüber geärgert. Aber an den Geruch, den süßlichen Geruch frisch bearbeiteten Marmors, erinnerte ich mich gut, und ebendieser Geruch stieg mir auch jetzt in die Nase.
Aber der Bruder saß bereits auf seinem Pferd. »Das kann nicht sein. Der Turm wurde vor über einem Jahrhundert fertiggestellt.«
Ich stieg auf Pene, doch als ich Bruder Guido folgte, drehte ich mich noch einmal zu dem steinernen Schiff über der Tür
um und betrachtete es, bis es nicht mehr zu sehen war. Es löste zusammen mit Bruder Guidos Bemerkung über Pisas Seemacht ein eigenartiges Unbehagen in mir aus. Als mir einfiel, wo ich etwas Ähnliches gehört hatte, hatte uns die Menge schon verschluckt, und der Lärm war so groß, dass es sinnlos war, dem Mönch etwas zuzurufen. Drei Seehandelsstaaten. Pisa, Neapel, Genua. Das waren ungefähr die Worte, die ich zu Botticelli gesagt hatte.
Die Worte, die mich das Leben kosten konnten.
2
Bald wurden wir zu beiden Seiten von der Menge so bedrängt, dass meine Beine schmerzhaft gegen Penes Flanken gepresst wurden, was das Tier veranlasste, protestierend zu furzen. Belustigt registrierte ich, dass die Menschen hinter seinem Hinterteil zurückzuweichen begannen, um den stinkenden Winden zu entgehen. Bruder Guido schlug seine Kapuze zurück und rief mir zu: »Folgt mir zu meinem Onkel. Er wird uns gute Plätze verschaffen.«
»Wo ist er denn?«, brüllte ich. Seine Antwort konnte ich nicht verstehen, aber ich sah, wohin er mit dem Zeigefinger deutete.
Madonna .
Wir hatten einen großen Platz erreicht, bunt wie ein Papagei, denn die umliegenden Häuser waren mit Fresken bemalt und prangten in leuchtenden Farben: kanariengelb und orangerot. Auch die Menschen, die sich hier drängten, waren bunt gekleidet; sie trugen Schärpen und Bänder, gemusterte Tuniken und silbern schimmernde Helme im militärischen Stil.
Ich verrenkte mir den Hals, um zu sehen, worauf Bruder Guido zeigte, und machte in dem ganzen Chaos ein mit Blumen
und Bändern geschmücktes Podest aus. Auf dem thronähnlichen Stuhl in der Mitte saß ein großer, gut aussehender Mann, der eine Samtkappe und einen seidenen Überwurf trug. Seine langen Beine verschwanden von den Knien ab in einem wahren Meer aus Windhunden, die jeden anbellten, der an ihnen vorüberging. Sein Gefolge umringte ihn und hielt Wein und Fleisch bereit. Doch obwohl der ganze Prunk mein geschäftsmäßiges Interesse weckte, galt mein Interesse als Frau dem Mann selbst. Sein rötliches Gesicht zeugte von einem guten Leben. Strahlend blaue Augen leuchteten darin - Bruder Guidos Augen. Und auch seine Züge glichen trotz sichtbarer Spuren des Alters denen des Mönches.
Der Onkel.
Bruder Guido begrüßte seinen Verwandten von der Menge aus, was mir leises Unbehagen einflößte, denn wir waren übereingekommen, heimlich mit ihm in Verbindung zu treten und nicht in aller Öffentlichkeit. Aber ich wusste, dass Bruder Guido sich hier, in seiner Heimat, sicher fühlte, und nun, wo die Hilfe greifbar nahe war, hatte er sich vermutlich nicht zurückhalten können. Beim Anblick seines Neffen erhellte ein freudiges Lächeln das Gesicht des Mannes. Mit einer Handbewegung schickte er den Größten seiner Gefolgsleute los, der sich einen Weg durch die Menge bahnte, bis er zu unseren Pferden gelangte. Der Hüne verneigte sich vor Guido, übernahm die Zügel unserer Pferde und herrschte die Leute vor ihm an, ihm Platz zu machen. Im nächsten Moment saß ich links neben dem Edelmann, hielt einen Becher mit bestem Chianti in der Hand und wurde Signore Silvio Gherardesca della Torre vorgestellt. Er küsste galant meine freie Hand, obwohl der Himmel wissen mochte, wie ich aussah - erschöpft, schmutzig und mit zerzaustem Haar. Auch stellte er mir keine Fragen bezüglich meiner Beziehung zu seinem Neffen, sondern winkte nur seinen hünenhaften Diener heran. »Das ist Tok, mein ungarischer Söldner, der Euch davor bewahrt
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