Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
als ihren Vormund ernannt. Sie war erst zwölf und konnte sich nicht allein um das Landgut kümmern. Kurz darauf war Onkel Humphrey mit seiner ganzen Familie – Cybill, seiner Frau, und George, Henry und Toby, seinen drei Söhnen – angerückt.
Alyss hatte schon bald gemerkt, dass Humphrey nie das Wohl seines Mündels im Auge hatte, sondern nur seine eigenen Interessen, denn vom ersten Tag an verhielten sich die Ratcliffs, als seien sie die Herren von Hatton Hall, und behandelten Alyss wie eine Küchenmagd. Der Vormund entließ den Gutsverwalter Thomas und seine Frau Beth, die sich stets wieeine Mutter um das Mädchen gekümmert hatte. Selbst der alte Gärtner und der Stallknecht wurden ausgewechselt. An den ewigen Haferbrei, den man ihr neuerdings zu essen gab, hatte sie sich schon fast gewöhnt. Doch dass die Ratcliffs nun vorhatten, Alyss ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen, das hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie drückte ihr Auge dichter ans Guckloch.
»Alyss geht fort von hier?«, staunte Henry. »Wieso?«
»Nicht freiwillig, du Dummkopf. Vater wird sie gegen ihren Willen wegschaffen.«
»Erzähl schon.« Einen Augenblick lang konnte man keinen Laut hören.
»Erinnert ihr euch an Vaters neuen Freund, der vor einigen Wochen hier auftauchte?«, begann George schließlich.
»Den Mann aus London mit der großen Nase?« Henry schnippte mit den Fingern.
»Genau der!« George senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: »Papa hat ihn beauftragt, das Mädchen zu beseitigen.«
Beseitigen? Was hatte der Onkel mit ihr vor? Plötzlich hatte Alyss das Gefühl, dass ihr im Priesterloch die Luft ausging.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe ihr Gespräch vom Flur aus mitgehört.« Der ältere Bruder blickte die beiden jüngeren triumphierend an, während er sich eine fettige Haarsträhne aus der Stirn strich.
»Und? Was haben sie besprochen?«
»Also, erst mal waren sich beide einig, dass Vater ohne Alyss Herr von Hatton Hall wäre.«
»Aber Vater ist ihr Vormund. Er hat doch ohnehin das Sagen«, erwiderte Henry.
»Nur solange sie noch ein Kind ist. Du Blödmann! Wenn sie volljährig wird, ändert sich das. Sie wird das Landgut erben, und unsere Familie wird wieder so arm wie die Kirchenmäuse sein. Und deswegen soll Alyss von hier weg.« Seine Stimme war so leise geworden, dass Alyss ihn nur noch mit Mühe verstand. »Papas Freund hat dann angeboten, das zu erledigen. Als Gegenleistung soll Papa irgendwas für ihn suchen. Auf jeden Fall wird der Mann bald wiederkommen, um sich Alyss zu holen.«
»Und was hat er mit ihr vor?«
George zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Mama kam den Gang entlang und ich habe den Rest nicht mehr mitbekommen. Ich kann mir da allerdings so einiges vorstellen, wie man ein Mädchen auf Nimmerwiedersehen loswird. Zum Beispiel könnte er sie in einen Sack stecken und wie eine Katze im Fluss ersäufen.«
Alyss schauderte. Das würde sie den Jungen tatsächlich zutrauen.
»Wie wäre es mit Bedlam?« Auch Henry schien es zu gefallen, sich auszumalen, wie man Alyss fortschaffen könnte. Vor Aufregung waren seine abstehenden Ohren rot angelaufen.
»Bedlam?«, unterbrach ihn Toby. »Was ist das?«
»Das ist ’ne Klapsmühle in London, in die sie Irre stecken. Wer dort landet, kommt nicht so schnell wieder raus.«
»Aber Alyss ist doch nicht verrückt.«
»Egal. Das spielt keine Rolle.«
»Und jetzt? Sollen wir weiter nach ihr suchen?« Toby blickte fragend von Henry zu George.
»Nee. Keine Lust mehr.« George erhob sich vom Armstuhl und ging auf die Tür der Bibliothek zu. »Ich habe eine bessere Idee.Wir gehen in die Küche. Dort roch es vorhin nach Mandelpastetchen. Alyss können wir ruhig Papas Freund überlassen.«
Das ließen sich seine beiden Brüder nicht zweimal sagen. Einen Augenblick später schlug die Bibliothekstür zu und die Schritte der Jungen verhallten im Gang.
Alyss dagegen rührte sich nicht von der Stelle. Wie gelähmt stand sie in ihrem Schlupfwinkel hinter dem Regal. Nach einer Weile sank sie zu Boden und schlang ihre Arme um die Knie. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Obwohl sie fest entschlossen war, nicht zu weinen, traten ihr Tränen in die Augen und begannen die Wangen hinabzukullern. Noch nie hatte Alyss sich so alleine und so verlassen gefühlt. Am liebsten hätte sie sich hier im Priesterloch wie in einem Schneckenhaus verkrochen und ihr Versteck nie wieder verlassen. Aber während sie hinter dem
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