Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
Bücherregal langsam verhungerte, würde der Besitz ihres Vaters an Onkel Humphrey gehen. Nein, das durfte sie auf keinen Fall geschehen lassen. Sie musste handeln und Hatton Hall vor den bösen Plänen des Onkels beschützen. Entschlossen schniefte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Eines war klar: Sie musste weg von hier, bevor Onkel Humphreys Häscher zurückkam.
Wie sehr sie ihren Vater vermisste! In Gedanken konnte Alyss ihn deutlich an seinem Schreibtisch sehen, über Seekarten gebeugt, die schulterlangen braunen Haare hinter die Ohren geklemmt. Egal wie beschäftigt er gewesen war, für Alyss hatte er immer Zeit gehabt, und früher, als sie klein gewesen war und sich vor allen möglichen Dingen gefürchtet hatte, brauchte sie nur auf seinen Schoß zu klettern. Er hatte sie getröstet, bis alles wieder gut war. Aber ihr Vater war nicht hier. Er würde nicht vom Meeresgrund zurückkehren, um dieRatcliffs aus dem Haus zu verjagen und Thomas und Beth wieder einzustellen.
Ralph Sinclair war nun schon vor mehr als einem Jahr sorglos und zuversichtlich, wie so oft zuvor, in die Neue Welt gesegelt. Alyss wusste, dass er im Auftrag des Königs reiste, um Seine Majestät mit Berichten aus den Kolonien zu versorgen. Sosehr ihr der Vater jedes Mal fehlte, hatte sie nie daran gezweifelt, dass er nach jeder abenteuerlichen Expedition wohlbehalten zu seiner Tochter nach Hatton Hall zurückkehren würde. Die traurige Nachricht, die Alyss genau acht Wochen nach seiner Abreise erhielt, traf sie völlig unvorbereitet. Wie konnte es möglich sein, dass die Aurora mitsamt ihrer Besatzung und ihrem Vater nie in Jamestown angekommen war? Das Schiff, vom Ozean verschluckt, spurlos verschwunden blieb? Trotz aller Vermutungen, dass sie Schiffbruch erlitten hätten und die Mannschaft ertrunken sei, hoffte Alyss noch immer auf die Rückkehr ihres Vaters. Sie glaubte fest daran, ihren Vater eines Tages wiederzusehen, und dann würde alles endlich wieder gut werden. In der Zwischenzeit musste sie etwas unternehmen. Doch was konnte eine Zwölfjährige allein gegen einen erwachsenen Mann ausrichten? Absolut gar nichts. Sie musste Hilfe holen. Aber wen? Außer den Ratcliffs hatte sie keine Verwandten, und sie hatte keine Ahnung, wohin es die treuen Diener Thomas und Beth verschlagen hatte. Plötzlich durchzuckte sie eine Erinnerung. Ja, natürlich ... das war es. Da gab es doch noch jemanden, der ihr helfen könnte. Jetzt brauchte sie nur noch einen Plan.
Jack
London, Freitag, 6. September 1619
Jack hockte mit den anderen Kindern der Bande auf Molls Dachboden. Wie jeden Abend wurden sie dort in der Kunst des Diebstahls unterwiesen. Doch Jack konnte sich nicht konzentrieren. Er musste heute besonders oft an seinen Bruder denken. Ned war seit genau fünf Wochen spurlos verschwunden.
»Ihm ist sicher nichts passiert«, hatten ihn die anderen Bandenmitglieder immer wieder aufgemuntert. »Die haben ihn nur beim Klauen erwischt und ins Heim gesteckt. Die Kinder werden schon nach ’n paar Wochen entlassen. Er taucht sicher bald hier auf. Und vergiss nicht, sie waren zu zweit. Guy ist schon fast vierzehn und gibt sicher auf den Kleinen acht.«
Doch Jack ließ sich nicht trösten. Trotz aller Ermutigungen befürchtete er das Schlimmste. Natürlich hatten seine Freunde recht. Wenn ein Taschendieb Pech hatte und von einem Wachmann auf frischer Tat ertappt wurde, steckte man ihn oft für einige Wochen nach Bridewell. Das ehemalige Schloss, zwischen Themse und Fleet Street gelegen, war kein Gefängnis, sondern nannte sich Besserungsanstalt. Dort sollten Bettler, Landstreicher, Taschendiebe und Verbrecher zu ordentlichenBürgern umerzogen werden. Doch die Anstalt unterschied sich kaum von den Gefängnissen der Stadt. Jack hatte von einem ehemaligen Insassen erfahren, dass es in Bridewell hart zuging. Man musste von früh bis spät arbeiten und bekam nur Haferschleim zu essen. Wie sollte der achtjährige Ned, der ohnehin schon schwächlich war, das überstehen? Zudem hatte Jack heute herausgefunden, dass die meisten Kinder tatsächlich nach vier Wochen entlassen wurden. Er konnte nicht mehr nur auf den Bruder warten, sondern musste handeln.
Plötzlich sah Jack die Kammer vor sich, in der er mit Ned und seiner Mutter nach dem Tod des Vaters gehaust hatte. Damals hatten sie ständig gefroren. Es war kaum Geld für ausreichend Essen, geschweige denn für Holz zum Heizen vorhanden gewesen. Dann eines Tages konnte die Mutter nicht mehr
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