Das Geheimnis des Nostradamus
Lächelnd fuhr er mit dem Zeigefinger über seinen gepflegten Schnurrbart. Ein Goldring mit eingefasstem Rubin schimmerte auf wie ein Tropfen Blut. Verwirrt starrte sie ihn an. Woher kannte sie diesen Mann? Wo hatte sie ihn schon einmal gesehen?
Monsieur Solier fasste die beiden Männer an den Schultern und führte sie in ein weiträumiges Sitzungszimmer, während Marie leise hinter ihnen herhuschte.
»Als Erstes muss ich mein Labor einrichten«, hörte sie die drängende Stimme von Nostradamus. Gleichzeitig musste er wohl Monsieur Challenge einen Zettel zugesteckt haben. »Dann brauche ich diese Zutaten, mit denen ich Medikamente mischen kann.«
»Perlmutt, Koralle, Lapislazuli…«, hörte sie die samtige Stimme von Challenge, der ein Spritzer Gift beigemischt schien. »Als könnte so eine Essenz Menschenleben retten.«
»Tut, was er Euch sagt«, flehte Solier ihn händeringend an. »Was bleibt uns noch an Möglichkeiten?«
»Wie Ihr wollt!« Challenge hüstelte und spitzte die Lippen wie ein kokettes Weib, während er Nostradamus fixierte. »Wie kommt es eigentlich, dass äußerst selten jüdische Viertel von der Pest befallen werden?«
Dieses Hüsteln! Dieser samtig bösartige Unterton! Marie erstarrte und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung verkrustete Sandkrumen aus dem Gesicht. Sie kannte diese Stimme! Aber woher?
»Es liegt wohl an der Hygiene«, antwortete Nostradamus besonnen, während er Monsieur Challenge aufmerksam musterte. »Denkt daran, dass die jüdische Bevölkerung sich an ihre Reinheitsgebote hält. Die Religionsgesetze bestimmen, vor jedem Essen die Hände zu waschen, oder schreiben ihnen das Baden in der Mikwe, dem rituellen Reinigungsbad, vor. Für unsereins sicherlich ein äußerst ungewöhnlicher Brauch.«
»Ihr scheint Euch da erstaunlich gut auszukennen…«, hörte Marie die honigsüße Stimme von Monsieur Challenge. Sie beobachtete durch den Türspalt, wie er gegen den Ring mit dem rot funkelnden Rubin hauchte und ihn an seinem Wams polierte.
»Zuallererst muss die Stadt von allem Unrat befreit werden«, gab Nostradamus ungerührt seine Anweisungen. »Dann sollen Tücher, die mit reinigenden Substanzen getränkt sind, an alle Bewohner verteilt werden. Sie sollen vor Mund und Nase gepresst werden, um die verseuchte Atemluft zu filtern. Ich denke, dass die Pest durch den Biss der Rattenflöhe auf Menschen übertragen wird…«
»Wenn es nur um Flöhe geht, warum der Aufwand? Was redet Ihr dann von Schmutz und Unrat?« Challenge schnipste ein paar Dreckspritzer von seinem eleganten Mantelsaum aus Fuchspelz.
»Wenn es keinen Schmutz und Unrat gibt, werden sich auch die Ratten in ihre Löcher zurückziehen«, fuhr Nostradamus ihn jetzt mit scharfer Stimme an. »Außerdem gibt es die verschiedensten Seuchen, wie auch die Diphtherie, der wir noch nicht Herr geworden sind.«
»Aber natürlich! Selbstverständlich!« Monsieur Solier fuchtelte beschwichtigend mit seinen Armen. Seine weißlichen, gedrungenen Hände tänzelten aufgebracht durch die Luft. »Sofort werden Eure Anweisungen befolgt. Kommt, ich werde Euch jetzt Eure Unterkunft zeigen.«
Marie warf einen letzten Blick auf Monsieur Challenge, der am Sitzungstisch lehnte. Blasses Nebellicht fiel durch die hohen Fenster und schien alles mit einem dämmrigen Schleier zu überziehen. Challenges Mundwinkel zuckten spöttisch. Marie wischte sich die schweißnassen Finger an ihrem Reisekleid ab, während sie schnell zurück zu ihren Reisetaschen lief.
Schon bald stand Nostradamus in einem großzügig eingerichteten Labor und mischte und köchelte bis spät in die Nacht heilende Substanzen. Marie hatte alle Hände voll zu tun, um ihm zu helfen. Sie schabte Pulver vom Elfenbein, Speckstein, Perlmutt, Koralle und Lapislazuli, vermischte dieses mit zermahlenem Hirschgeweih, Aloeholz und Zimtmark und träufelte noch Rosen- und Veilchenöl hinzu.
»Hast du die Mixtur fertig?«, fragte Nostradamus, während er in einem Steinmörser eingelegte Zitronenschalen mit Nüssen, Myrobalanenkonfitüre, Pomeranzen, Lattich und Kürbis zerstampfte.
»Ja, es fehlen nur noch Amber, Moschus und die feine Seide«, rief Marie und schaute aus dem Fenster. Auf der Straße liefen junge Ärzte ganz in Weiß gekleidet wie groteske Vogelungeheuer durch die Stadt. In Stoffmasken waren über ihrer Nase Schläuche angebracht, um die Luft zu filtern. Wie riesige Schnäbel strotzten sie aus ihren Gesichtern. Glaslinsen für die Augen blinkten wie riesige
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