Das Geheimnis des Nostradamus
Eintritt zu gewähren. Marie sah für den Bruchteil einer Sekunde Katharina von Medici. Sie war dunkel gekleidet, das hochgeschlossene Gewand umschmeichelte nicht ihre gedrungene Statue. Ihre bleichen Gesichtszüge wirkten zutiefst verhärmt, als hätten sich Demütigungen und Verletzungen tief in ihre Haut eingegraben. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, selbst der Konnetabel wurde fortgeschickt. Die Königin wünschte ein Gespräch unter vier Augen. Marie blieb allein auf dem Gang zurück. Alles war ruhig. Auf einmal bemerkte sie, dass das eine Türportal nicht richtig ins Schloss gefallen war. Auf Zehenspitzen schlich sie näher. Ihr Kleid aus venezianischer Seide raschelte leise, als sie sich bückte und durch das Schlüsselloch linste. Schon bald konnte sie erste Wortfetzen aufschnappen.
»Und meine Kinder, meine sieben Nachkommen?«, hörte sie die energische Stimme der Königin. »Welches Schicksal wird auf meine vier Söhne zukommen?«
Marie erschrak. Hatte Nostradamus nicht in einer Gruft sieben junge, bleiche Gesichter gesehen? Hatte er nicht gesagt, dass Prinzessin Claude im Kindsbett sterben würde? Dass Katharinas Lieblingssohn Henri von Valois von einem Mörder erdolcht werden würde? Dass François mit zwölf Jahren für eine Kinderehe mit der schottischen Königstochter Maria Stuart ausersehen und schon bald sterben würde? Dass der kleine, traurige Charles mit neun Jahren zum König gekrönt werden würde? Einer nach dem anderen sollte König werden und durch mörderischen Tod sterben! Wie sollte Nostradamus das der Königin nahe bringen? Vielleicht würde sie ihn aus Empörung über seine dreisten Weissagungen in den Kerker werfen lassen!
»Ich sehe vier Kronen«, hörte Marie jetzt seine bedächtige Stimme. »Majestät, alle Eure Söhne werden herausragende Positionen haben, einer nach dem anderen.
Und Ihr aber werdet die Macht in den Händen behalten und alles erleben, so wie Ihr es wünscht.«
»So werde ich im Hintergrund die Fäden ziehen können? Ausgezeichnet! Die Macht ist mir das Wichtigste, alles andere ist uninteressant.« Ihre Stimme klang verbittert. »Und Seine Majestät Heinrich II.? Was ist mit ihm und seiner… Mätresse Diane de Poitiers?«
Marie hielt den Atem an, als Nostradamus Katharina von Medici einen Bogen Pergament überreichte.
»Eine Vision, die ich für Eure Majestät notiert habe.« Er verbeugte sich, während sie die seltsamen Worte vorlas:
»Le lyon jeune le vieux surmontera En champs bellique par singulier duelle, Dans cage d’or les yeux lui crèvera Deux classes une, puis mourir mort cruelle …… was hat das zu bedeuten?«
Nostradamus zögerte, dann erklärte er mit wohlklingender Stimme, die ein wenig gehetzt klang: »Nun, so wie ich es niedergeschrieben habe: Der junge Löwe wird den alten bei einem seltsamen Turnier auf dem Kampfplatz besiegen. Er wird ihn bei einem der Kämpfe ins Auge treffen, durch den goldenen Käfig. Und er wird bald darauf eines grausamen Todes sterben.«
»Wer wird sterben?« Katharina von Medicis Stimme klang sirrend wie ein spitzer Pfeil, der aus einer Armbrust abgeschossen wurde. »Ihr meint Seine Majestät Heinrich IL?«
»So ist es!« Nostradamus wirkte bedrückt. »Er wird sterben!«
Ein grausames Lachen hallte durch den Saal. »So wird die Macht auf meine Kinder übergehen? Auf meine geliebten Kinder!«
Marie fuhr erschrocken zurück, als Schritte durch den Gang hallten. Der Konnetabel brachte höchstpersönlich Wein und Braten für den hohen Gast. Dann führte er Marie zu ihrem reich ausgestatteten Schlafgemach, wo ein köstliches Mahl für sie bereitstand. Nach dem Essen schmiegte sie sich schon bald in die weichen Kissen des einladenden Bettes und versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Kaum waren sie ein paar Tage später nach erfolgreichen Debatten wieder aufgebrochen und kutschierten auf der staubigen Landstraße nach Bordeaux zurück, galoppierte ihnen aus der Ferne drängend und aufbegehrend ein Reiter mit wehendem Umhang entgegen. Vor der aufgehenden Sonne, die jetzt im glühenden Licht am rötlichen Horizont stand, zeichnete er sich wie ein düsterer Schicksalsbote ab. Endlich war das starre Gesicht des Reiters zu erkennen, aus dem zwei übermüdete Augen hervorblitzten. Er war bleich, als hätte er eine Totenmaske übergezogen. Jetzt hatte er die Kutsche erreicht. Er griff in sein Wams und suchte nach einem zusammengefalteten Stück Papier.
»Maître de Notredame«, stieß er atemlos hervor,
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